Archiv für den Monat: Oktober 2006

Anabolika-haltige Literatur

Dass dieser Roman ausgerechnet ein Zitat aus Mary Shelleys „Frankenstein“ voranstellt, mag auf den ersten Blick überraschen. Am Ende der Lektüre aber angekommen, wird sich diese Analogie geradezu aufdrängen. Denn wie in „Frankenstein“ wird auch in „Der Fremde in mir“ mit großem Aufwand Menschenmaterial zu einem höheren Zweck geformt – und mutiert letztlich doch zu einem Monster. Im Falle des dritten Romans des Berliner Autors Markus Dullin wird mittels Hanteln und Anabolika aus dem Ich-Erzähler Franz ein Muskelberg und Bodybuilding-Champion. Das hässliche Entlein verwandelt sich in den allseits begehrten Hunk.

dullincoverWenn sich Vergangenheit und Gegenwart eingeholt haben, entlädt sich die Spannung schließlich im Vollzug eines perfiden Racheplans.
„Der Fremde in mir“ ist aber erst in zweiter Linie ein Psychokrimi; im Vordergrund steht für Dullin zweifellos die auf verschiedenen Ebenen diskutierte Auseinandersetzung mit dem Traum von ewiger Jugend und Körperkult. Was passiert, wenn sich Identität allein über – körperliche – Äußerlichkeiten definiert? Was heißt es, wenn das Selbstwertgefühl sich ausschließlich über de Umfang des Bizeps speist? dullin Dullin ist dabei keineswegs moralisierend, liefert aber jede Menge kritische Anmerkungen für dieses, gerade die schwule Welt so prägenden Phänomene, ohne dabei den Erzählfluss ins Stocken geraten zu lassen.

Die Crux mit den Arabern

Der umtriebige schwule Autor Joachim Helfer wurde im Rahmen eines deutsch-arabischen Kulturprojekts dem libanesischen Autor Rashid-al-Daif als Austauschpartner „zugemutet“, was al-Daif so irritiert hat, dass er ein Tagebuch seiner Erlebnisse umgehend in seiner Heimat veröffentlichte. Für die deutsche Ausgabe dieser Außenwahrnehmung („Die Verschwulung der Welt“) wurden Kommentare Helfers beigefügt. al-Daif ist für arabische Verhältnisse ein aufgeklärter Intellektueller, der sich, wenn man Helfer glauben darf, nicht die Bohne für die europäische Kultur interessiert, über keinerlei Kenntnisse der europäischen Geschichte verfügt und nicht im Traum auf die Idee käme, die Existenz einer eigenen, anderen Wertorientierung europäischer Christen in Betracht zu ziehen. Für ihn ist ein Mann, den schwangere Frauen nicht in Begeisterung versetzen Die Crux mit den Arabern weiterlesen

Literatur-Cruising in München: Auf den Spuren der Manns

Für den bildungsbürgerlichen Schwulen gehört diese Adresse gewissermaßen zum Pflichtprogramm einer München-Sightseeing-Tour: Poschinger Straße 1, inzwischen nach seinem berühmten Bewohner umbenannt in Thomas-Mann-Allee. Hier, dicht an den Isarauen, hatte sich Mann für seine junge Familie 1913/14 eine Villa bauen lassen. Die Kinder Elisabeth und Michael kamen hier zur Welt; hier entstanden der „Zauberberg“ und die beiden ersten „Joseph“-Romane. Und 1929 ereilte Thomas Mann hier die Mitteilung, dass ihm der Nobelpreis für Literatur zugesprochen worden war.

Haus
In der Nachbarschaft wohnte die Familie Hallgarten, in dessen Sohn Ricki sich Klaus Mann verliebte. Und um die Ecke lebten die Wedekinds, mit deren Tochter Pamela sich Klaus als 18-Jähriger verloben sollte. Bis zur Emigration 1933 war diese Villa das Heim der Manns. Danach erlebte die Immobilie eine wechselhafte Geschichte und wurde etwa von Heinrich Himmlers Rasseorganisation „Lebensborn genutzt. US-Amerikanische Fliegerbomben machten das Haus 1994 schließlich unbewohnbar.
Haus 1925

Ein Förderkreis regte gemeinsam mit Manns jüngster Tochter Elisabeth Mann-Borgese an, auf dem Grundstück eine Gedenkstätte für den berühmten Schriftsteller zu einzurichten. Doch der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) hielt nicht viel von einem „künstlichen Ersatz“ für die einstige Villa. Alexander Dibelius, Deutschland-Chef einer amerikanischen. Investmentbank, hielt von solchen Bedenken nichts. Literatur-Cruising in München: Auf den Spuren der Manns weiterlesen

Der letzte Bissen

Nun sitze ich auf Naxos im Sturmtief und mache mir meine Gedanken ueber die Repraesentanz des Homosexuellen in der Literatur (Eintrag von Gestern!) – statt zu lesen.

Einen Krimi zum Beispiel. Das kennen wir? Schmierige Homos als Eifersuchtstaeter, als Opfer einer Erpressung, als Strichjunge? Nicht so bei Leo P. Ard, einem Hamburger Krimi-Autor, der in den letzten Jahren vor allem Dehbuecher fuer Fernsehserien geschrieben hat und jetzt eine den Appetit verderbende Krimi-Satire auf Deutschland im vierten Jahr der absolutuen Fleischprohibition geschrieben hat: „Der letzte Bissen“. (Habe ich auf der Buchmesse mitgenommen, weil der Verleger (Grafit) meinte, das waere etwas fuer mich – warum auch immer?!) Mordopfer enden als Mortadella Der letzte Bissen weiterlesen

Partystimmung mit schwulem Massenmörder

Ungebrochen virulent ist das Klischee des schwulen Nazis. Konnte man vor kurzem in den Feuiletons hierzulande erleben, dass die Mitgliedschaft in der Waffen-SS zur Promotion eines Bestsellers ein wunderbar taugliches Mittel ist, so toppt ein Phänomen in Frankreich diese (Werbe-)Kampagne noch: Jonathan Littell schrieb mit „Les bienveillantes“ (erschienen bei Gallimard) einen Mega-Bestseller, den der Verlag jeweils 100.000-fach nachdruckt. Protagonist und Erzähler in Littells Roman ist ein SS-Einsatzgruppenleiter, Max Aue: Stalingrad, Massaker an jüdischen Ukrainern, Verehrer Ernst Jüngers, Muttermörder – und stockschwul! Endlich ein Bericht aus der Täterperspektive, jubelt das Feuilleton, Partystimmung mit schwulem Massenmörder weiterlesen

Odd Klippenvag auf Norwegisch

Der norwegische Autor Odd Klippenvag (da muss eigentlich ein kleines „o“ über das „a“) ist seit Jahren überaus produktiv, und ein wenig hat sich das auch in deutschen Übersetzungen niedergeschlagen: Vor sehr langer Zeit wurde im Verlag rosa Winkel der Roman „Otto Otto“ angekündigt (aber nie veröffentlicht), der Querverlag nahm die Erzählung „Body&Soul“ in seine Anthologie „Sodom ist kein Vaterland“ auf, und auch Männerschwarm veröffentlichte eine Erzählung Klippenvags in der Anthologie „Happy Endings“ („Alles klar“). Seine Übersetzerin Gabriele Haefs (ihre erste Arbeit war die Übersetzung von Vindlands „Irrläufer“) sucht bisher erfolglos deutsche Verlage für mehrere seiner Bücher, aber vielleicht gibt es ja Leser, die des Norwegischen mächtig sind und diesen m.E. überaus reizvollen Autoren im Original lesen möchten. Odd Klippenvag auf Norwegisch weiterlesen

Schwule angekommen im Bewusstsein der Literatur?

Erinnern wir uns an einen interessanten Roman von Sten Nadolny, vor Jahren erschienen: „Selim oder die Gabe der Rede“. In der Konfrontation mit dem fremden, morgenlaendischen Selim erfaehrt sich der Erzaehler am Ende selber als fremd. Er merkt ploetzlich, dass er Linkshaender ist. Waere er nicht auf den „Anderen“ gestossen, haette er sich selbst nie als „anders“ wahrgenommen. Abgesehen davon, dass hier auf sehr schoene Weise gezeigt wird, wie produktiv die Begegnung mit dem Andersdartigen fuer die sein kann, die sich fuer „normal“ halten, geht die Geschichte irgendwie weiter:

Selim bleibt ein Einzelkind

Unter diesem Titel schreibt neulich Schwule angekommen im Bewusstsein der Literatur? weiterlesen

„Omi ist lieb …“ – Wirz bläst zum Sturm

Wenn man seinen Vornamen um zwei Buchstaben verlängert, gelangt man von Mario (Wirz) zu jener großherzigen und -busigen Person, die alles gesehen hat und auch dann Süßigkeiten austeilt, wenn man es gar nicht verdient hat. Als böse hanseatische Tunte darf man bei der Lektüre des neuen Gedichtbands „Sturm vor der Stille“ dann überrascht und erfreut feststellen, wie klare Worte sich einer erlauben kann, der niemandem Böses will. Denn die Gedichte in „Sturm vor der Stille“ sind eine Art von Meditation mit Bezug zu real existierenden Menschen, die als Widmungsträger genannt werden. Die vielen Seelen in der Brust des Autors treffen auf eine Vielzahl von Bekannten in der Außenwelt und gehen dabei oft sehr reizvolle Verbindungen ein – auch wenn „für Sollorz, Foelske, Klimke“ etc. drübersteht, dienen diese realen Figuren in erster Linie dazu, die Reflexionen Mario Wirz‘ ein Stück weit bei der Hand zu nehmen. „Omi ist lieb …“ – Wirz bläst zum Sturm weiterlesen

Literaturpreise mit ?

Katharina Hacker bekam für ihren Roman „Die Habenichtse“ den diesjährigen Deutschen Buchpreis. Man ist ja schon froh, wenn es in der deutschen Gegenwartsliteratur um anderes geht als um die ewigen Themen Kindheit/ Familie oder Selbstfindung von Müttern in einem gewissen Alter. Welche besonderen Merkmale diesen Roman jedoch an die Spitze der Neuerscheinungen im Zeitraum Oktober 2005 bis September 2006 stellen, erschließt sich sicher nicht jedem.
Die Preisverleihung bietet Anlass, ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern: Frau Hacker bekam vor einigen Jahren von Suhrkamp den Auftrag, einen recht offen schwulen Roman eines jungen Israeli ins Deutsche zu übersetzen. Als der Suhrkamp Verlag das Buch dann lieber doch nicht veröffentlichen wollte, nahm der Männerschwarm-Verlag ihre Arbeit als Grundlage für eine eigene Buchausgabe – und stellte fest, dass zwei Episoden fehlten. Auf Nachfrage erklärte Frau Hacker, dass sie sich weigere, diese Texte ins Deutsche zu übertragen, sie ging sogar soweit, ihre Arbeit komplett zurückzuziehen, falls diese Texte in der deutschen Ausgabe enthalten sein würden. Literaturpreise mit ? weiterlesen

Buchmesse-Nachlese – Fred Kroll über Klaus Mann

Noch bin ich etwas erschöpft von der Messe – die Nachlese wird hier in den nächsten Tagen Häppchenweise kommen.
Nur soviel ganz kurz heute: Es gibt ein Literaturcafe, dass als Messe-Podcast wunderbare Interviews von der Messe hörbar ins Haus bringt. Bei Männerschwarm am Stand wurde Fred Kroll interviewt.

Fred Kroll auf der Buchmesse
Er und vieles andere, vor allem aber „Jenseits der Nische“, unter

Literatur-Cafe.de

und da zum Buchmesse-Podcast und etwas Scrollen.
Hört sich gut an.