Die Legende um Schernikaus „Legende“

Das Konvolut „Legende“ des verstorbenen Ronald M. Schernikau ist längst selbst zur Legende geworden: 1999 als echte Subskription in einem editorischen Kraftakt beim Dresdner Verlag Goldenbogen veröffentlicht (heute würde man es Crowd-Funding nennen), September 2019 im Berliner Verbrecher Verlag neu aufgelegt, inspiriert es viele Leser und Leserinnen vermutlich gerade wegen seines rätselhaften Inhalts.
1996 wurde dem Männerschwarm Verlag das Manuskript zur Veröffentlichung angeboten, und der Verlag bat den Kölner Autor Walter Foelske (1934-2015) um ein Gutachten. Es fiel nicht schmeichelhaft aus, deshalb trat der Verlag von dem Projekt zurück – ökonomisch eine dumme Entscheidung, wie man heute weiß. Da dieses eigenartige Buch von Lesern und Kritik so ganz anders als vom Kollegen Foelske aufgenommen wurde, wollen wir Foelskes dezidiert „dessenting vote“ nun zugänglich machen. Der Text unterliegt dem Copyright Männerschwarm 1996. Die Legende um Schernikaus „Legende“ weiterlesen

Poesie im Zeitalter der Übertitel – Eine kleine Betrachtung zum Internationalen Poesiefestival Berlin

In Berlin findet zurzeit zum 20. Mal das internationale Poesiefestival statt, und am Montag stand das Festival ganz unter dem Zeichen queerer Stimmen. Angélica Freitas, Lee Mokobe, Urayoán Noel und Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki trugen beeindruckende Texte vor, was zur Folge hatte, dass ich mich am Ende der Veranstaltung so mies gefühlt habe wie seit langem nicht. Nun gut, ich bin ein Sensibelchen und leicht zu beeindrucken, aber durch Zufall hatte ich gerade erst in Nietzsches „Geburt der Tragödie“ gelesen und dort den Satz gefunden, nur die Künste machten „das Leben möglich und lebenswerth“. Denn schließlich definierte sich die Poesie lange Zeit durch ihre Eigenschaft, unabhängig von ihrem Gegenstand zu verzaubern. Poesie im Zeitalter der Übertitel – Eine kleine Betrachtung zum Internationalen Poesiefestival Berlin weiterlesen

Nicht „von dieser Welt“ – James Baldwins Debutroman revisited

James Baldwins Debutroman „Go, tell it on the mountain“ spielt an nur einem Tag und einer Nacht, der Nacht zum Sonntag, in der sich die „heiligen“ Gemeindemitglieder der Kirche der Feuergetauften in ihrer Kirche in Harlem versammeln und auf den Sonntagsgottesdienst einstimmen. Es ist eine schwarze, evangelikale Erweckungskirche, und das heißt: nachdem die Gemeinde sich in einen Trance-Zustand gesungen und geklatscht hat, redet der Prediger seinen Schäfchen mit mächtigen Worten ins Gewissen, bis die reuigen Sünder sich heulend und betend vor dem Altar niederwerfen und ihre Sünden bekennen. Der Sünder durchschreitet in seiner Fantasie ein läuterndes Feuer, wobei er vom Gebet der Gemeinde unterstützt wird. Dann erblickt er das Gesicht Gottes und wird erlöst. Nach diesem Ereignis gehört er zu den Erlösten oder Heiligen und ist „nicht von dieser Welt“. (Worauf mag der deutsche Titel „Von dieser Welt“ anspielen?) Nicht „von dieser Welt“ – James Baldwins Debutroman revisited weiterlesen

Paul Russell schaut aus dem Fenster

Mit beachtlicher Verspätung hat der amerikanische Autor Paul Russel im Jahr 2017 den deutschen Buchmarkt erreicht: Im Frühjahr mit dem biografischen Roman „Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow“ (dt. von Matthias Frings), im Herbst mit seinem Debutroman „Brackwasser“ aus dem Jahr 1990 (dt. von Joachim Bartholomae). Es ist verwunderlich, dass dieser gelehrte und mehrfach preisgekrönte Autor, dessen Werke in den USA anfangs in Verlagen der Penguin-Gruppe und neuerdings bei der Cleis Press erschienen sind, in Deutschland sechsundzwanzig Jahre lang ignoriert wurde. Manche Reaktionen auf den soeben erschienenen Roman „Brackwasser“ zeigen allerdings, dass Russells im besten Sinn altmodische Schreibweise bei deutschen Lesern tatsächlich Befremden hervorruft. Paul Russell schaut aus dem Fenster weiterlesen

Sozialkitsch aus der Champagne – Eribons „Rückkehr nach Reims“

Der Soziologe, Kolumnist und Sachbuchautor Didier Eribon kehrt mit 55 Jahren zurück in seine Heimatstadt in der Provinz und entdeckt die soziale Ungerechtigkeit der französischen Gesellschaft – kann das wahr sein? Ist man am rive gauche der Seine so eingesponnen in kulturelle Herausforderungen, dass man die Wirklichkeit um sich herum vergessen kann? Sein Bericht „Rückkehr nach Reims“, 2009 in Frankreich und 2016 in Deutschland erschienen, ist das erschütternde Dokument einer intellektuellen Verwirrung, und seine begeisterte Rezeption in Deutschland dokumentiert den Verfall der öffentlichen Meinung hierzulande. Sozialkitsch aus der Champagne – Eribons „Rückkehr nach Reims“ weiterlesen

Die erste „Prairie-Fairy“ der Literaturgeschichte

Der Ire Sebastian Barry hat mit „Days without end“ eine sehr berührende Liebesgeschichte im Wilden Westen geschrieben: Noch als Kinder lernen sich der mädchenhafte Thomas McNulty und der drei Jahre ältere John Cole kennen. In einem gottverlassen Kaff sucht ein Kneipenwirt „saubere Jungs“, und die beiden bewerben sich um die Stelle. Zu ihrer Überraschung werden sie in Mädchenkleider gesteckt, um mit den Bauern zu tanzen und so einen Funken Schönheit in ihr tristes Leben zu bringen. Tatsächlich bleibt es beim Tanzen, die Anwesenheit der jungen Damen verwandelt die rauen Burschen in fast vollendete Gentlemen. Die erste „Prairie-Fairy“ der Literaturgeschichte weiterlesen

„Du siehst müde aus.“ Ein kanadischer Homo-Terrorist verrent sich.

„Früher beklaute ich Heteros aus politischen Gründen. Alles, was einem heterosexuellen weißen Yuppie gehört, wird durch Unterdrückung bezahlt. Das hetero-normative Besitzparadigma ist ein tyrannisches Glaubenssystem, das es verdient, an jeder Front unterlaufen zu werden, egal ob durch politischen Protest oder kleinere Diebstähle. Inzwischen bin ich ehrlicher, was das angeht. Ich kann zugeben, dass ich Heteros beklaue, weil ich sie ganz einfach nicht mag.“
Mit diesem Credo des jungen Helden beginnt der Roman „Lockpick Pornography“ (2012) des Kanadiers Joey Comeau, der nun im Wiener Luftschacht Verlag auf Deutsch erschienen ist. Der Roman hat 111 Seiten, aber eigentlich ist auf der ersten Seite schon alles gesagt. „Du siehst müde aus.“ Ein kanadischer Homo-Terrorist verrent sich. weiterlesen

Der kleine schwule Bruder: „Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow“

Berlin, 23. November 1943: Die Royal Air Force fliegt ihre Bombenangriffe auf die Hauptstadt des Deutschen Reichs, das Propagandaministerium arbeitet unverdrossen an Durchhalteparolen und Endsieglügen. In der für die Übersetzungen ins Russische verantwortlichen Abteilung erklärt einer der Mitarbeiter plötzlich, dass „England das zivilisierteste Land der Welt“ sei. Er wird sofort nach Hause geschickt; nachdem seine Wohnung durch Bomben zerstört wurde, taucht er unter. Er fürchtet die Gestapo, war schon 1941 wegen homosexueller Handlungen verurteilt worden und steht deshalb bereits unter Beobachtung. Ihm blieben drei Wochen, bis er entdeckt und verhaftet wird. Am 10. Januar 1945 stirbt er im KZ Neuengamme

Der Mann, dessen Geschichnte hier erzählt wird, ist der 1900 geborene Sergej Nabokow, der jüngere Bruder des berühmten Der kleine schwule Bruder: „Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow“ weiterlesen

„Lolita“ – ein Klassiker wird besichtigt

Moderne Klassiker wie Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ meint jeder irgendwie zu kennen; man hat so oft darüber gelesen oder gesprochen, doch selbst gelesen haben sie nur nur wenige. Ich habe diese Bildungslücke nun geschlossen, und ich muss sagen, ich bin ratlos, was ich davon halten soll. Hätte ich das Buch nur zum eigenen Vergnügen zur Hand genommen, ich hätte es bestimmt nicht zuende gelesen. „Lolita“ – ein Klassiker wird besichtigt weiterlesen

Schublade „homosexuelle Emanzipationsliteratur“

Nach dem großen Erfolg des Romans „Das verlorene Wochenende“ (1944) veröffentlichte Charles Jackson nur zwei Jahre später seinen zweiten Roman. Er hatte dazugelernt: War der Debut-Roman noch thematisch strikt auf die Analyse der Alkoholiker-Psyche ausgerichtet, so nimmt „Die Niederlage“ die Hilflosigkeit der Amerikaner in Geschlechtsdingen ins Visier. Es ist die Rede von erotischer Schwärmerei unter Schülern, rigider Keuschheitserziehung junger Mädchen, die später schwere physische Behinderungen beim Geschlechtsverkehr zur Folge haben, von Macho-Identitäten, die Frauen zu austauschbaren Sex-Automaten erniedrigen, und unterwürfigen Weibchen, die solchen Machos auch noch nachlaufen. Die Liste ließe sich beträchtlich fortsetzen. Doch wenn ein deutscher Rezensent das Buch, das nach 50 Jahren nun endlich auf Deutsch erschienen ist, in die Finger bekommt, landet es in der Schublade „homosexuelle Emanzipationsliteratur“. So z.B. in der heutigen Rezension der FAZ (15.11.16): „Wunsch- und Albtraum“: Schublade „homosexuelle Emanzipationsliteratur“ weiterlesen