„Du siehst müde aus.“ Ein kanadischer Homo-Terrorist verrent sich.

„Früher beklaute ich Heteros aus politischen Gründen. Alles, was einem heterosexuellen weißen Yuppie gehört, wird durch Unterdrückung bezahlt. Das hetero-normative Besitzparadigma ist ein tyrannisches Glaubenssystem, das es verdient, an jeder Front unterlaufen zu werden, egal ob durch politischen Protest oder kleinere Diebstähle. Inzwischen bin ich ehrlicher, was das angeht. Ich kann zugeben, dass ich Heteros beklaue, weil ich sie ganz einfach nicht mag.“
Mit diesem Credo des jungen Helden beginnt der Roman „Lockpick Pornography“ (2012) des Kanadiers Joey Comeau, der nun im Wiener Luftschacht Verlag auf Deutsch erschienen ist. Der Roman hat 111 Seiten, aber eigentlich ist auf der ersten Seite schon alles gesagt.

Die Handlung besteht aus drei Sequenzen: Nachdem er in der Wohnung eines One-night-stands den Fernseher zertrümmert hat, weil dort dümmlich über Toleranz gegen Schwule geredet wurde, macht sich der Held zusammen mit seinem Freund Richard auf, einen Fernseher zu stehlen, um diesen Schaden zu ersetzen. Stehlen ist sein Hobby, er ist gut im Schlösserknacken mit zwei Stahlstiften, was auf Englisch „Lockpick“ heißt, daher der Titel. Nachdem dieses Manöver erfolgreich abgeschlossen wurde, mischt er zusammen mit seinem Freund, der Lesbe Michelle und dem Transjungen Alex eine Schülerparty auf; ihn reizt die Idee, einen Jungen durch Michelle zum Sex verführen zu lassen, ihm die Augen zu verbinden und ihm dann selbst den Schwanz zu blasen, um sich über den Schrecken des Jungen zu freuen, wenn er merkt, dass sein Schwanz im Mund eines Mannes gewesen ist. Als nächstes produziert das Kleeblatt queere Jugendbücher und steckt sie in zwei Highschools in die Spinde der Schüler; im Anschluss an diese Aktion entführt die Bande noch den achtjährigen David, um ihn nach ein paar Stunden wohlbehalten wieder abzugeben.
Das alles sind ziemlich pubertäre Jungenstreiche, deren Abläufe minutiös und ganz unterhaltsam geschildert werden. Eingebettet sind diese Streiche in wirres Gerede über böse Heteros und die Schwierigkeit, die Eindeutigkeit der Geschlechtszugehörigkeit zu durchbrechen und so etwas wie queere Persönlichkeiten zu werden. Der Held hat einmal Sex mit seinem Freund und dem Transjungen Alex, wobei er dessen Gummischwanz zerkaut, was Alex gar nicht lustig findet, denn für ihn ist es schließlich kein Dildo, sondern sein Schwanz, sowas tut man nicht. Der Held fragt sich, wer oder was Alex nun eigentlich für ihn ist, und kommt zu dem Schluss: ein Mädchen mit Plastikschwanz.
Mag die Handlung streckenweise noch so turbulent und „aufrührerisch“ sein: mehr als das Credo am Anfang kommt nicht dabei heraus. Weder werden die bösen Heteros in ihrer Bosheit oder Banalität anschaulich vorgeführt, noch ermöglicht die Geschichte Einblicke in die Persönlichkeiten der handelnden Figuren. Comeau schießt ein paar bunte Feuerwerksraketen in die Luft, das Publikum sagt Oh und Ah, und dann fallen ihm die ausgebrannten Raketenhülsen auf den Kopf. Mehr ist nicht. Wirklich lebendig wird nur ein kleiner Nebenstrang der Handlung: Der Held sucht sich aus dem Telefonbuch blind eine Nummer und ruft dann immer wieder bei der ihm völlig fremden Frau Hubert an, um ihr wirres Zeug zu erzählen. Anfangs legt die Frau schnell wieder auf, doch später scheint sie die Anrufe schon zu erwarten und fängt an, den erregten Chaoten zu bemuttern. Sie ist es auch, bei der die Entführer den kleinen David wieder abgeben, wobei Frau Hubert den Helden mit den Worten tröstet: „Du siehst müde aus.“ Damit siegt die heteronormative Familie mit ihren Rollenmustern über das anarchische Chaos, das diese Familienstrukturen eigentlich zerstören wollte. Ist es das, was der Autor sagen will?
Irgendwann fiel mir beim Lesen dieser Eskapaden ein anderes kleines Buch ein, das 1985, fast dreißig Jahre früher erschienen ist. Es beginnt mit den Worten: „Alles schläft. Dorn aber schwimmt durch die Straßen.“ Die Älteren erinnern sich: Der erste Band aus Detlev Meyers „Biographie der Bestürzung“. Beide Texte scheinen mir recht gut das Lebensgefühl ihrer Generation einzufangen, deshalb ist es aufschlussreich, sie zu vergleichen. Die „Biographie der Bestürzung“ wurde soeben vom S. Fischer Taschenbuchverlag neu aufgelegt.

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