Moderne Klassiker wie Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ meint jeder irgendwie zu kennen; man hat so oft darüber gelesen oder gesprochen, doch selbst gelesen haben sie nur nur wenige. Ich habe diese Bildungslücke nun geschlossen, und ich muss sagen, ich bin ratlos, was ich davon halten soll. Hätte ich das Buch nur zum eigenen Vergnügen zur Hand genommen, ich hätte es bestimmt nicht zuende gelesen.
Die Handlung lässt sich leicht zusammenfassen: Ein vierzigjähriger Witwer lernt als Kind seiner Vermieterin die zwölfjährige Lolita kennen. Er heiratet seine Vermieterin und führt ihren Tod herbei, um ungehindert mit Lolita zusammensein zu können. Die beiden reisen ziellos durch die USA, übernachten in Motels und kleinen Hotels, versuchen kurz sesshaft zu werden und reisen dann weiter. Schließlich merkt der Erzähler, dass ein anderer Mann ihnen folgt, und während eines Krankenhausaufenthalts verschwindet Lolita. Er sucht nach ihr, tröstet sich dann mit einer anderen jungen Frau, doch dann meldet sich die inzwischen verheiratete Lolita bei ihm mit der Bitte um Unterstützung: sie ist schwanger. Der Erzähler besucht sie und ihren Ehemann, und sie erzählt ihm, wer sie ursprünglich entjungfert und Jahre später dann entführt hat. Der Erzähler tötet den Nebenbuhler.
Das Buch gibt sich als Bericht an eine Jury aus. Der Erzähler Humbert Humbert steht offenbar vor Gericht und erzählt seine Lebensgeschichte, doch erst auf den letzten dreißig Seiten stellt sich heraus, dass er sich nicht etwa wegen Unzucht mit Minderjährigen verantworten muss (ich vermeide bewusst das furchtbare Wort „Missbrauch“), sondern wegen Mordes. Wenn dieser Mord also der Fluchtpunkt der Erzählung ist, bezieht der Roman dann seine Dramaturgie aus der Beantwortung der Frage, wie es zu diesem Mord kommen konnte? Keineswegs, das Thema „Ein Widersacher taucht auf, Lola verschwindet, Humbert sinnt auf Rache“ springt gegen Ende des Romans wie deus ex machina aus der Schachtel (314, 336-347), ein Zusammenhang mit der „Liebesgeschichte“ ist nicht ersichtlich. Vom Ende her gelangt man also zu keinem Verständnis des Plots. Was will uns der Autor sagen? Was will uns der Erzähler sagen? Ich weiß es nicht.
Wie fängt die Geschichte an? Der Erzähler gibt eine kurze und klare Beschreibung dessen, was er eine „Nymphe“ nennt: ein Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren mit einer bestimmten Ausstrahlung. Dieser Punkt ist von Bedeutung: Es ist nicht allein das Alter, das den Erzähler fasziniert; der Großteil der Mädchen dieser Altersklasse lässt ihn vollkommen kalt. Nein, es ist eine Art koketten Verhaltens, die er als aufreizend empfindet. Und er konstatiert, dass ebenso, wie ein bestimmter Prozentsatz der Mädchen Nymphen seien, ein bestimmter Prozentsatz der Männer in besonderem Maß für Nymphenreize empfänglich sei. Die Sache ist nach zehn Seiten klar, der Leser hat es verstanden. Naheliegend wäre nun, dass der Erzähler einer oder mehrerer Nymphen begegnet und dabei herausfindet, wie er sich ihnen gegenüber verhalten kann und darf, unter sozialen, pädagogischen, erotischen und juristischen Gesichtspunkten – in Form eines „nymphophilen Bildungsromans“. Aber so kommt es nicht: Der Erzähler beschreibt vielmehr – in einer genialischen Mischung aus Eindeutigkeit und Diskretion – zwei sexuelle Begegnungen mit Lolita, und ignoriert im weiteren die psychologischen und erotischen Aspekte des Zusammenlebens eines Kindes mit einem Vierzigjährigen vollkommen. Die Nymphenliebe wird keiner literarischen Erkundung ausgesetzt. Stattdessen geschehen furchtbar viele Dinge, die mit dem intergenerationellen Zusammenleben überhaupt nichts zu tun haben: Humbert Humbert schildert mit großer Detailversessenheit die gemeinsamen Reisen durch die Vereinigten Staaten, erzählt von Orten und Begegnungen – der touristische Wert ist ohne Frage beträchtlich; wer weiß, vielleicht hat Nabokov-Verehrer Edmund White sich hier zu seinem Bestseller „States of Desire“ / „Staaten der Sehnsucht“ inspirieren lassen. Recht unvermittelt ist Lolita dann verschwunden, und für Humbert Humbert beginnt eine Zeit des Leidens, bis er Lolita schließlich wiedersieht.
Wie behandelt Nabokov das Thema der sexuellen Beziehung zwischen Humbert und Lolita? Recht bald schon kommt es zu einem kleinen Gerangel im Wohnzimmer, das – von Lolita vermutlich unbemerkt – bei Humbert zum Orgasmus führt:
Then, with perfect simplicity, the impudent child extended her legs across my lap. By this time I was in a state of excitement bordering on insanity […/] Her legs twitched a little as they lay across my live lap; I stroked them […] and every movement she made, every shuffle and ripple, helped me to conceal and to improve the secret system of tactile correspondence between beast and beauty – between my gagged, bursting beast and the beauty of her dimpled body […] her young weight, her shameless innocent shanks and round bottom, shifted in my tense, tortured, surreptitiously laboring lap […] What had begun as a delicious distension of my innermost roots became a glowing tingle which now / had reached that state of absolute security, confidence and reliance not found elsewhere in conscious life. With the deep hot sweetness thus established and well on its way to the ultimate convulsion, I felt I could slow down in order to prolong the glow. […] The least pressure would suffice to set all paradise loose. […] „Look, look!“ – I gasped – „look what you’ve done, what you’ve done to yourself, ah, look“; for there was, I swear, a yellowish-violet bruise on her lovely nymphet thigh which my huge hairy hand massaged and slowly enveloped – and because of her very perfunctiory under/things, there seemed to be nothing to prevent my muscular thumb from reaching the hot hollow of her groin – […] and: „Oh it’s nothing at all“, she cried with a sudden shrill note in her voice, and she wiggled, and squirmed, and threw her head back, and her teeth rested on her glistening underlip as she half turned away, and my moaning mouth, gentlemen of the jury, almost reached her bare back, while I crushed out against her left buttock the last throb of the longest ecstasy man or monster had ever known. (64-67)
Keine Frage: das ist einerseits großartig geschrieben, entspricht andererseits jedoch genau dem Bild vom sabbernden Schokoladenonkel und Kindergrabscher, das uns allen von Kindheit an eingetrichtert wird. Ein wenig scheint es, als handele es sich um eine Fingerübung: als gehe es dem Autor nur darum, seine auch diesem heikelsten aller heiklen Themen gerecht werdende Meisterschaft vorzuführen. Doch hinter den schönen Worten erfährt der Leser gar nichts, denn man merkt sehr schnell: in Wirklichkeit macht sich Nabokov über diese sexuelle Begegnung ganz einfach lustig. Der Text ist ohne Frage satirisch, der Autor zielt auf das Kichern der Leser und keineswegs auf literarische Durchdringung seines Gegenstands.
Doch weiter. Humbert glaubt, er wäre im siebten Himmel, doch der Sommer steht vor der Tür und Lolita wird ins Ferienlager geschickt. Um seinen Zugang zu Lolita zu sichern, heiratet Humbert Lolitas Mutter. Als die herausfindet, was er im Schild führt, bringt er sie um und holt Lolita aus dem Urlaubscamp. Nun kommt es zu „richtigem“ Sex, Lolita verführt ihn am ersten Morgen im Hotel:
She rolled over to my side, and her warm brown hair came against my collarbone. I gave a mediocre imitation of waking up. We lay quietly. I gently caressed her hair, and we gently kissed. […] All at once, with a burst of rough glee (the sign of the nymphet!), she put her mouth to my ear – but for quite a while my mind could not separate into words the hot thunder of her whisper, and she laughed, and brushed the hair off her face, and tried again, and gradually the odd sense of living in a brand new world, where everything was permissible, came over me als I realized what she was suggesting. […] „Lay off, will you,“/ she said with a twangy whine, hastily removing her brown shoulder from my lips. […] „You mean“, she persisted, now kneeling above me, „you never did it when you were a kid?“
„Never“, I answered quite truthfully.
„Okay“, said Lolita, „her is where we start.“
However, I shall not bore my learned readers with a detailed account of Lolita’s presumption. Suffice it to say that not a trace of modesty did I perceive in this beautiful hardly formed young girl […] (150f).
Humbert beschreibt sich als attraktiven 40jährigen, weshalb Lolitas Mutter ihm vom ersten Augenblick an nachgestellt habe. Juristisch ist er nun Lolitas (Stief-)Vater. Kaum sind sie allein im Motel, hat das Mädchen, das „keine Spur von Scham“ erkennen lässt, nichts dringenderes zu tun, als ihren Stiefvater nach Art der Schulkinder, was immer das sei, zu befriedigen. Man könnte sagen: so dürftig würde nicht einmal ein pornografischer Text das vorherrschende sexuelle Interesse bemänteln.
Aus Gründen, die nicht genannt werden, schlägt die Stimmung schon kurz darauf vollständig um: Lolita beschimpft Humbert und droht damit, zur Polizei zu gehen (S. 159), was wenig Sinn ergibt, es sei denn, der Ich-Erzähler Humbert habe bei der Darstellung der morgendlichen Bettszene gelogen. Darauf gibt es jedoch keine Hinweise. Humbert erklärt ihr, dass sie im Fall, dass die Polizei ihn verhaftet, im Heim landen würde (S. 170).
Damit beginnt die einjährige Irrfahrt, in deren Verlauf keinerlei Probleme zwischen den beiden erwähnt werden. Als sie dann in Beardsley sesshaft werden, kommt Humbert auf das Taschengeld zu sprechen, das Lolita erhält, und wie sie sich etwas dazuverdient:
Only very listlessly did she earn her three pennies – or three nickels – per day; and she proved to be a cruel negotiator whenever it was in her power to deny me certain life-wrecking, strange, slow paradisal philters without which I could not live more than a few days in a rew, and which, because of the very nature of love’s languor, I could not obtain by force. Knowing the magic and might of her own soft mouth, she managed – during one schoolyear! – to raise the bonus price of a fancy embrace to three, four bucks. (208)
Und das ist auch schon alles. Weiter dringt der Roman nicht in die Details des gemeinsamen Alltags, der Entwicklung Lolitas und etwaiger psychischer Begleiterscheinungen ein. Erst rückblickend, als er die verheiratete Lolita besucht, macht Humbert sich Vorwürfe, die überraschend kommen, weil in der vorangehenden Schilderung der fraglichen Zeitspanne nicht auch nur andeutungsweise davon die Rede war.
Alas, I was unable to transcend the simple human fact that whatever spiritual solace I might find, whatever lithophanic eternities might be provided for me, nothing could make my Lolita forget the foul lust I had inflicted upon her. (322)
There was the day, during our first trip – our first circle of paradise – when in order to enjoy my phantasms in peace I firmly decided to ignore what I could not help perceiving, the fact that I was to her not a boy friend, not a glamour man, not a pal, not even a person at all, but just two eyes and a foot of engorged brawn – to mention only mentionable matters. (323)
Rückblickend gesteht Humbert sich ein, ignoriert zu haben, „was unübersehbar war“ – doch sein Bericht wurde erst viele Jahre nach den Ereignissen geschrieben, also zu einem Zeitpunkt, als er den Selbstbetrug längst erkannt hatte: Warum verzichtet er darauf, diesen Selbstbetrug „im Vollzug“, also im tagtäglichen Leben, zu durchschauen und zu entlarven? Warum gibt er dem Leser über hunderte von Seiten den Eindruck eines konfliktfreien Miteinanders? Wie passen satirische Sexszenen und tiefe Reue zusammen? Wollte Nabokov sich mit Humberts Bericht über die Nymphophilen lustig machen, bis ihm am Ende auffiel, dass das Thema zu ernst ist, um nicht auch ein paar wahre Sätze zu sagen?
Das Genre des „Roadmovie“ ist dadurch gekennzeichnet, dass die Charaktere sich immer tiefer in ihre jeweilige Fehlentwicklung (oder Selbsterkenntnis) hineinsteigern. Sei es „Easy Rider“, sei es „Messidor“ oder sein Remake „Thelma und Lousie“: Im Lauf der Reise zeigen die propagierten Ideale immer deutlicher ihr wahres Gesicht. Bei „Lolita“ passiert gar nichts.
Wenn ich erklären sollte, wie ein so grandios misslungener Roman zu solcher Berühmtheit gelangen konnte, würde ich sagen: Wegen all der Humbert Humberts, für die wenig immer noch besser ist als nichts, die endlich ein Buch bekamen, das ihre aussichtslose Sehnsucht thematisiert, wenn auch ohne sie zu beschreiben. Und im zweiten Schritt natürlich durch all diejenigen, die auf die Presse hereingefallen sind und meinten, ein schmutziges Buch zu kaufen. Was für ein Witz! Denn wer „Lolita“ liest, erfährt überhaupt nichts über Nymphen und Nymphophile.
Vladimir Nabokov (1899-1977), Lolita (1955)
zitiert nach der Ausgabe London 2006 (Pocket Penguin Classic)