Die Legende um Schernikaus „Legende“

Das Konvolut „Legende“ des verstorbenen Ronald M. Schernikau ist längst selbst zur Legende geworden: 1999 als echte Subskription in einem editorischen Kraftakt beim Dresdner Verlag Goldenbogen veröffentlicht (heute würde man es Crowd-Funding nennen), September 2019 im Berliner Verbrecher Verlag neu aufgelegt, inspiriert es viele Leser und Leserinnen vermutlich gerade wegen seines rätselhaften Inhalts.
1996 wurde dem Männerschwarm Verlag das Manuskript zur Veröffentlichung angeboten, und der Verlag bat den Kölner Autor Walter Foelske (1934-2015) um ein Gutachten. Es fiel nicht schmeichelhaft aus, deshalb trat der Verlag von dem Projekt zurück – ökonomisch eine dumme Entscheidung, wie man heute weiß. Da dieses eigenartige Buch von Lesern und Kritik so ganz anders als vom Kollegen Foelske aufgenommen wurde, wollen wir Foelskes dezidiert „dessenting vote“ nun zugänglich machen. Der Text unterliegt dem Copyright Männerschwarm 1996.

Ronald M. Schernikaus LEGENDE
von Walter Foelske

Es standen sich einmal zwei Weltentwürfe feindlich gegenüber: Kommunismus/ Kapitalismus.
Es war einmal eine geteilte Stadt. Ost/West-Berlin.
Auch Insel genannt.
In diese Stadt verirren sich vier Götter, die einst Menschen waren:
Die Göttin Kafau, damals Therese Giehse
Der Gott Stino, einst Max Reimann
Die Göttin Fifi, früher Ulrike Meinhof
Der Gott Tete, einst Klaus Mann

Die Götter sind fehlbar.
Sie stehen zwar meist auf der für den Autor richtigen Seite, also links, bewegen aber so gut wie nichts. Für die Menschen mal sichtbar, mal unsichtbar, haben sie fast unentwegt die Hände im Spiel, ohne aber den Gang der Handlung entscheidend beeinflussen zu können.

Es war einmal ein Groß-Kapitalist, Anton Tattergreis, anfangs Schokoladenfabrikant, später sozialer Kanzler, zuletzt Hausbesitzer.
Er liebt Janfilip Geldsack, seinen Ziehsohn und potentiellen Nachfolger bzw. Erben.

Es war einmal Herr Lange, Symbolfigur der Linken, Erzfeind der Tattergreise und Geldsacks.
Er will die DDR mit der Tattergreis’schen Schokolade überschwemmen, ist aber plötzlich bankrott, kann also nicht mehr bezahlen, reißt auch das Tattergreis’sche Imperium in den Abgrund, weil Tattergreis /Geldsack auf ihren Schokoladentafeln sitzenbleiben.

Es waren einmal die Menschen, das Volk, die zwischen links und rechts, oben und unten hin- und hergerissenen kleinen Leute. Gedrängt in die Rollen von (z.B.) stellvertretenden Vorsitzenden der kommunistischen Partei, Mitarbeitern kommunistischer Tageszeitungen, Schlagersängerinnen, Stationsschwestern, Pförtnern, Managern, Schokoladenarbeitern, Reportern, Polizisten usw., sind sie das sog. Komödien-Personal (LEGENDE von Schernikau ist eine Roman-Komödie), das Salz in der Roman-Suppe, schwankend, korrumpierbar, alleweil eher links als rechts, alleweil aber dennoch verführbar, doppelgesichtig, so dumm wie schlau.

Drei große Schauplätze federn den Roman ab, geben ihm Spiel-Raum für die diversen ideologisch gefärbten Spielchen des Autors:
Schokoladenfabrik
Krankenhaus
Besetztes Haus.
Gekämpft wird auf allen drei Ebenen. Hier geht das Schokoladen-Imperium unter, dort wird das Krankenhaus aus Ersparnisgründen gegen jede Vernunft geschlossen, zuletzt scheitern alle im besetzten Haus.

Kapitalismus wie Kommunismus haben abgewirtschaftet.
Der Großindustrielle Tattergreis verkommt zur Witzfigur eines Sozialen Kanzlers ohne soziales Gewissen, sein Gegenspieler Lange zur Witzfigur eines DDR-Monarchen, dem die BRD-Oberen schließlich die Füße lecken.
Die Insel geht zugrunde. Tattergreis und sein Gegenspieler gehen zugrunde. Das sog. Volk sowieso.

Doch:
Ähnlich wie im PARSIFAL gibt es ein sog. Grals-Geschehen ganz am Schluss des Romans: im Kreisbüro der kommunistischen Partei, im langsam vereisenden also sterbenden Berlin, bündeln sich in einer Kitsch-Kugelvase, vergleichbar dem Grals-Kelch, die Strahlen einer künftigen Sonne, und die Taube einer wie auch immer gearteten kommunistischen Zukunft steigt auf in den verdüsterten Himmel.

Eingeschnitten in den Roman sind sog. Festspiele, Filme, Lieder für Rostock usw., die, teils von Schernikau selbst, teils von anderen Autoren übernommen, den Roman stützen, kommentieren, über sich hinausführen, aber auch unnötig aufblähen, belasten und komplizieren, weil sie nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun haben, Schernikau vielmehr versucht gewesen ist, seine in Schreibtischschubladen vergammelnden gescheiterten Projekte doch noch ans Licht des Tages zu heben.

LEGENDE ist ein durch und durch schwuler Roman, also eine Bereicherung für unsere Literatur. Er bringt das Kunststück fertig, Politisches mit Schwulem und Schwules mit Politischem zu durchwürzen, 600 Seiten lang das eine mit dem anderen wie selbstverständlich zu mischen und wenn nicht in Einklang, so doch geschickt über die Bühne zu bringen.
LEGENDE ist aber auch der langweiligste und langwierigste
Roman, der mir je untergekommen ist.

Es ist ein Roman der kleinen Worte und kleinen Schritte, der am Ende zwar zu einem Großen zusammenzuschießen scheint, aber um welchen Preis!
Um den Preis unvorstellbarer Lesetorturen!
Da wird eine Geschichte nicht erzählt, sie wird auf tausend Um- und Nebenwegen verschleppt, zerschnitzelt und vergoren.
Arno Schmidt hat ähnlich erzählt. Arno Schmidt hat auf ähnliche Art und Weise versucht, jeder Lese(r)-Erwartung ein Schnippchen zu schlagen.
Während es Schmidt aber gelungen ist (ich rede hier nur von der Art und Weise seines Erzählens, nicht von Inhalten), den willigen, auf ihn eingeschworenen Leser (allerdings nur den) zu seinem Stil etc. zu verführen, gelingt Schernikau das (bei mir) zu keinem Zeitpunkt.

Schernikau hat mit diesem Roman, was seine Art des Schreibens betrifft, möglicherweise zu sich selbst gefunden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er den Text nur so heruntergerissen hat, hemmungslos, ohne auf Widerstände zu stoßen, in seinem ureigenen Jargon. Er beherrscht seine Mittel brillant. Innerhalb seiner Möglichkeiten ist alles ganz toll im Lot. Er schreibt ein sog. „gutes Deutsch“ à la Schernikau. Man schlage den Roman auf an welcher Stelle auch immer, es fließt und fließt in diesem scheinbar für Schwachsinnige ausgetüftelten langwierig-langweiligem Fluß:

klara krieg erzählt. bald ist mein haus fertig. das obere zimmer ist schon. der teppichboden war teuer. aber dann ist schon mal ein zimmer fertig. der teppichboden ist so grün. so grau, so grüngrau. sehr schön. wenn das ganze haus fertig ist, lade ich sie ein. gut, daß ich ein eigenes haus habe. der obere stock ist bald fertig. die küche war teuer. aber es hat sich gelohnt. das wird eine feier, wenn das haus fertig ist. ich werde alle einladen. die küche ist modern. bald ist das haus fertig.

Oder es wird auf eine verquaste Art und Weise kompliziert und undurchschaubar:

wenn sie auf ihn zugeht. sich an ihn setzt, ihn fragt: na. er: na. sie lachen sehn einander. kostüm frau beide. sie die mutter übertrieben mit anmal und perücke. er der sohn da also betrieben auch. die gelackten wimpern das angebot. usw.

Natürlich weiß ich, dass es heikel bis unsinnig ist, aus einem 600-Seiten-Text willkürlich einzelne Passagen herauszupicken und sich über sie her zu machen. Vielleicht schießt der Text ja, kann man einwenden, gerade weil das Einzelne heikel scheint, zu einem originellen Ganzen zusammen, abseits von jedem eingefahrenen Gleis, also zu einem Geniestreich. Möglicherweise war ich ja der falsche Leser für den Schernikau.

Immer dann atmet man im Verlauf der Lektüre auf, wenn er Fremdtexte in seinen eigenen Text einschiebt. Von Erika Runge, von Elmar Kraushaar usw. Da weiß man plötzlich wieder, wie Erzählen oder Erzähltes erzählen (zugegeben: auf konventionelle Art und Weise) sein kann, wie es den Leser mitnimmt, nicht beiseiteschiebt.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Schernikau kein anderer Arno Schmidt oder Joyce oder wer auch immer ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass, diesen Roman abzulehnen, kein Verbrechen an der schwulen deutschsprachigen Literatur bedeuten würde.
Schernikau hat sich, wie viele in den Roman eingeschaltete Ansprachen an den Leser beweisen, selbst total überschätzt. Das ist legitim. Denn schreiben und einen Text zuendeschreiben kann nur der, der sich (sein Können) schätzt bzw. überschätzt. Hier aber liegt für mich die übertriebene Selbstüberschätzung eines Autors auf der Hand.
Ein großes Thema (ein großer Stoff) wurde vom Autor nicht bewältigt, der Autor wurde von seinem Thema (Stoff) überwältigt, ja erschlagen.
So wie hier erzählt wird, sind Gähnen und tödliche Langeweile angesagt. Ein Stoff, der recht eigentlich ein Jahrhundert­Stoff, eine Zeit- und Welten-Analyse zu sein bzw. zu werden verdient hätte, zerfällt unter Schernikaus Händen zu Kokel.

Der Roman ist u.a. ein großer Gemischtwaren-Laden. Alles ist hineingepackt: ganze Witz-Kannonaden (also das Aneinanderreihen von Witzen und Witzchen), ganze Porno-Komödien, ganze Drehbuch-Monstrositäten. Wer jetzt wieder meint, ich beschreibe die nicht geschriebenen Romane der Arno Schmidts und Joyces, die Schernikau endlich zu Papier gebracht hat, der lese LEGENDE! Und bilde sich dann ein eigenes Urteil.

Viele der Einschübe (z.B. Teil v, ein utopischer Film) sind lediglich Rohentwürfe, keine Texte, mit denen man arbeiten, die man beispielsweise in einen Film umsetzen könnte. Schernikau war möglicherweise groß IN UND FÜR SICH. Hätte er dieses Drehbuch verfilmt, wie es in seinem Kopf gewuchert hat, es wäre vielleicht ein toller schwuler Film daraus geworden, ein Schernikau’scher Geniestreich, wie nur der Drehbuchschreiber und Regisseur Schernikau ihn hätte realisieren können. Jetzt aber, ohne Schernikau, scheint mir der Film, das Drehbuch, die Idee unausgegoren, Stückwerk, Makulatur.

LEGENDE ist m.E. eine Totgeburt mit viel wimmelndem Leben im toten Körper. Möglicherweise hätte der Autor Schernikau, zusammen mit einem Lektor, den toten Körper doch noch beatmen, also zum Leben erwecken können.

Aber auch da habe ich meine Zweifel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert