In Berlin findet zurzeit zum 20. Mal das internationale Poesiefestival statt, und am Montag stand das Festival ganz unter dem Zeichen queerer Stimmen. Angélica Freitas, Lee Mokobe, Urayoán Noel und Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki trugen beeindruckende Texte vor, was zur Folge hatte, dass ich mich am Ende der Veranstaltung so mies gefühlt habe wie seit langem nicht. Nun gut, ich bin ein Sensibelchen und leicht zu beeindrucken, aber durch Zufall hatte ich gerade erst in Nietzsches „Geburt der Tragödie“ gelesen und dort den Satz gefunden, nur die Künste machten „das Leben möglich und lebenswerth“. Denn schließlich definierte sich die Poesie lange Zeit durch ihre Eigenschaft, unabhängig von ihrem Gegenstand zu verzaubern.
Die Brasilianerin Angélica Freitas kam diesem alten Ideal noch recht nahe, wobei ihre Bildsprache und die sanfte Bewunderung weiblicher Schönheit durchaus an den züngst übertünchten Gomringer erinnerte. Danach ergoss sich ein Schwall von Wut und Klage über das Publikum, der ohne Frage berechtigt war – aber eben die Frage nach der Schönheit aufwarf, die das Leben erst lebenswerth macht. Hier kann man wohl sagen, dass das Ausdruck ihrer Wut und ihrer Klage das Leben der Poeten ein wenig erleichtern mag, doch im Grunde wohl dadurch, dass die Last, die Sorge auf die Schultern der Zuhörer verschoben wird.
Ich frage mich, welche Rolle die Tatsache, dass vor allem in fremden Sprachen gesprochen wird (und Übersetzungen projiziert werden), für das große Publikumsinteresse spielen mag. Wenn ich eine Brasilianerin portugiesisch, einen Polen Polnisch reden höre, klingt das für meine diese Sprachen ungewohnten Ohren wunderschön – und zwar unabhängig davon, ob die Autorin oder der Autor sich der eigenen Sprache auf poetische, auf schöne Weise bedient, denn das kann ich ja gar nicht beurteilen. Wären vorwiegend deutschsprachige Texte zum Vertrag gekommen, hätte man das Publikum mit dem Problem konfrontiert, die poetische Qualität der Texte selbst einschätzen zu müssen. Was für mich die weitere Frage aufwirft, welchen Sinn ein Poesiefestival haben mag, das dem Publikum dieses Problem weitestgehend vorenthält. Durch den Klang einer exotischen Sprache bezaubert zu werden erinnert mich an den Film „Ein Fisch namens Wanda“, in dem Jamie Lee Curtiz durch das Aufsagen sinnloser Wortreihen in Italienisch oder Russisch in sexuelle Erregung gerät. Wogegen natürlich nichts einzuwenden ist.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurde auf diesem deutschen Poesiefestival hauptsächlich Ausländisches auf Ausländisch vorgetragen, und für das Auge mehr oder weniger brutal in die Landessprache übersetzt. Ich finde das durchaus logisch, wenn man bedenkt, dass EINERSEITS hie und da im Ausland – namentlich in Südamerika – die Poesie noch ihren Platz behauptet, sie dort noch im öffentlichen Bewusstsein existiert, regelmäßig in auflagestarken Zeitschriften erscheint und, wie ich höre, sogar Lyrikbändchen gekauft werden– der geringe Preis, den sie dafür bezahlt, ist ihre formale Rückschrittlichkeit, dass sie sich also keineswegs so hermetisch gebärdet wie dort, wo sich zufälligerweise kein Mensch mehr für sie interessiert – und ANDERERSEITS das Bedürfnis nach erhabener Dunkelheit, das in den fortgeschrittensten Gesellschaften seit langem vorzuherrschen scheint, von *gesprochener* Poesie im Slamzeitalter oft nicht mehr ausreichend befriedigt wird. Soll dennoch ein Event stattfinden, wird klug ausgewichen: Die schöne (exotische) Hermetik für das Ohr, und den womöglich hässlichen (banalen) Sinn für das Auge. Aber das kann natürlich nur eine Ferndiagnose sein.
Lieber Herr Schlegel,
wie stets elegant ausgedrückt und absolut zutreffend!