Paul Russell schaut aus dem Fenster

Mit beachtlicher Verspätung hat der amerikanische Autor Paul Russel im Jahr 2017 den deutschen Buchmarkt erreicht: Im Frühjahr mit dem biografischen Roman „Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow“ (dt. von Matthias Frings), im Herbst mit seinem Debutroman „Brackwasser“ aus dem Jahr 1990 (dt. von Joachim Bartholomae). Es ist verwunderlich, dass dieser gelehrte und mehrfach preisgekrönte Autor, dessen Werke in den USA anfangs in Verlagen der Penguin-Gruppe und neuerdings bei der Cleis Press erschienen sind, in Deutschland sechsundzwanzig Jahre lang ignoriert wurde. Manche Reaktionen auf den soeben erschienenen Roman „Brackwasser“ zeigen allerdings, dass Russells im besten Sinn altmodische Schreibweise bei deutschen Lesern tatsächlich Befremden hervorruft.
Auf einer Veranstaltung des „Queeren literarischen Quartetts“ in Berlin brachte eine in Berlin lebende amerikanische Sängerin und Comedian ihr Verständnis des Romans so auf den Punkt: Wenn diese Leute im Lokal am Nebentisch säßen, würde man sich darüber ärgern (sinngemäß). Dieser Kommentar offenbart ihr Literaturverständnis: Literatur soll irgendwie nett sein. Das ist Russell nicht, und anscheinend kommen amerikanische Leser damit besser klar als deutsche (?).
Ein zweites Beispiel: Auf einer Lesung aus „Brackwasser“ wird eine Passage vorgetragen, in der drei Menschen über einen jungen Mann von siebzehn, achtzehn Jahre kollektiv den Kopf verlieren. Das ist nicht sehr sophisticated und zudem wenig erfolgversprechend, soll aber im richtigen Leben durchaus vorkommen. Die Reaktion einiger Leser war ungnädig, man urteilte: Das ist keine Literatur. Wieder prägt das Thema ohne Umschweife das Urteil über die literarische Qualität eines Textes. Das erinnert mich daran, dass erst vor wenigen Jahren eine Hamburger Richterin den Pornografie-Vorwurf gegen eins unserer Bücher mit der eigentlich selbstverständlichen Begründung zurückwies, man könne nicht über aus dem Zusammenhang genommene Passagen, sondern nur über ein Werk als ganzes urteilen. In Zeiten der political correctness scheinen deutsche Gerichte liberaler zu sein als manche deutsche Leser. 1974 sang der österreichische Barde André Heller: „Denn ich will, dass es das alles gibt, was es gibt,“ und wenn es überhaupt möglich ist, das Wesen der Literatur zu definieren, dann doch wohl als Feier der Vielfalt des Lebens, eines Lebens, das in den Routinen, Vereinseitigungen und Verarmungen, die der Alltag unweigerlich mit sich bringt, diese literarischen Erinnerungen an all das andere, „was es gibt“, bitter nötig hat.
Worüber schreibt Paul Russell? In seinem Debüt „Brackwasser“ sind es die letzten drei Monate einer Freundschaft von zwei Männern und einer Frau. Die drei sind Ende zwanzig und haben die ersten großen Enttäuschungen des Lebens bereits hinter sich. Jetzt haben sie sich in einer Kleinstadt eingerichtet, die so langweilig ist, dass sie sich selbst für die Avantgarde halten können. Ein Friseur, ein Musikhändler, eine Textilverkäuferin – man sieht gleich, hier geht es um ganz normale Menschen, teils schwul, teils hetero (bei Chris verläuft die Grenze gewissermaßen mitten durch ihn hindurch). Russell untersucht die Persönlichkeiten dieser drei wie Moleküle unter dem Mikroskop, sachlich und präzise, aber voller Anteilnahme.
Wie in Goethes „Wahlverwandtschaften“ ändern sich die Anziehungskräfte zwischen diesen drei Molekülen, als ein viertes hinzukommt, und wie in Goethes Roman führen diese Veränderungen schließlich zur Katastrophe. Eine Lehre lässt sich aus den Ereignissen nicht ableiten, ja, man weiß nicht einmal, wer hier möglicherweise etwas falsch gemacht hat – wie in der griechischen Tragödie hat ganz einfach eine chemische Reaktion stattgefunden, die angesichts der beteiligten Moleküle unvermeidlich war.
Seit Jonathan Franzens „Korrekturen“ und Eugenides‘ „Middlesex“ Anfang des 21. Jhdts. wird die amerikanische Gegenwartsliteratur, durch Autoren wie Auster und DeLilo gut vorbereitet, von sich breit dahinwälzenden (Familien-)Schicksalsgeschichten dominiert, deren Protagonisten Spielbälle guter und böser Einflüsse sind und sich irgendwie tapfer behaupten. Jüngstes Beispiel dieser Erzählweise ist „Ein wenig Leben“ von Hanja Yanagihara, die triviale, aber handwerklich gekonnt auf Effekt geschriebene Geschichte eines armen Opfers, dem Schreckliches widerfahren ist und das im Kreis stark überzeichneter Gutmenschen Tröstung erfährt. All diesen pompösen Romanen ist gemeinsam, dass ihr Setting und ihre „Problematik“ keinerlei Bezug zum Alltag der Leser und Leserinnen aufweist, dass sie dennoch geradezu aggressiv zur Identifikation mit dem Helden auffordern, der seinerseits inmitten all der Turbulenzen, in die er gerät, völlig frei von Schuld ist. Hier sind die Menschen „die Tennisbälle der Sterne“, wie Webster das im 16. Jhdt. formulierte, wobei im sozialkritischen Roman unserer Tage die „Sterne“ durch „böse Menschen“ ersetzt wurden.
Wer erst einmal von diesen Schicksals-Dampfwalzen plattgewalzt wurde, hat ein klares Weltbild, das zudem, sehr verwunderlich, durch verschiedene französische „Sozialphilosophen“ von Foucault über Derrida bis Deleuze und Guattari und ihre amerikanischen Schüler à la Butler eine gewisse akademische Weihe bekommt: Die Queer Theory, in die der französische Poststrukturalismus inzwischen gemündet ist, gefällt sich in der Dekonstruktion (z. Dt. Entlarvung) böser Kräfte, die dafür verantwortlich sind, dass alles irgendwie nicht so ist, wie es sein sollte – eben „Sterne“, die mit den Menschen Tennis spielen, wobei man über die Beschaffenheit dieser Wirkkräfte vollständig im Dunkeln bleibt: Man denkt an Professor Bömmel aus Spörls „Feuerzangenbowle“ und seine Erklärung der „Dampfmaschin“. Auf diese Weise kann man große Probleme des Lebens zur Sprache bringen und die Leserschaft unbehelligt in der Rolle des unbeteiligten Publikums belassen. Russell macht das genaue Gegenteil.
Also noch einmal, über wen schreibt Paul Russell? Da ist zunächst Anatole, Mitte zwanzig, schwul, so lange er denken kann, und Friseur. Seine Eltern haben ihn, als sie von seinem Schwulsein erfuhren, empört verstoßen, was als Vorgeschichte in einer Rückblende berichtet wird. Er verdient gut und vögelt sich fröhlich durch die überschaubare schwule Szene seines Städtchens. Nachts träumt er vom Abwurf der Atombombe, interessiert sich sonst jedoch weder für Politik im Allgemeinen noch die Schwulenbewegung im Besonderen. Sein Leben wird von der Suche nach dem „Jungen Gott“ bestimmt, mit dem er dann glücklich bis ans Ende seiner Tage leben würde. Seine beste Freundin ist Lydia, mit der er „schon immer“ befreundet ist, eine etwas übergewichtige junge Frau, die das College abgebrochen hat und überfordert aus New York geflohen ist, um in ihrer Kleinstadt Schutz zu suchen. Beide trinken kräftig und sind auch anderen Drogen nicht abgeneigt. Eines Tages kommt Anatole während einer Zugfahrt mit Chris ins Gespräch, in den er sich Hals über Kopf verliebt. Die beiden freunden sich an, auch wenn Chris nicht auf Anatoles sexuelle Avancen reagiert. Auch Lydia findet Chris toll, was ihn zum Mittelpunkt ihres Dreierklubs macht. Chris ist vom College in die Kleinstadt geflüchtet, als sich ein Mitstudent, der in ihn verliebt war, aus Liebeskummer das Leben genommen hat. Als Anatole und Lydia eines Tages den jungen Leigh entdecken, verliert Chris seinen privilegierten Platz als allseits umworbenes Zentrum an den „Jungen Gott“ und nimmt selbst vorerst die Rolle des unbeteiligten Zuschauers ein, bis Leigh endlich selbst entscheidet, wer ihn interessiert, und diese Entscheidung auf Chris fällt. Doch Chris weist ihn zurück. Leigh verschwindet, und die Freundschaft von Anatole, Lydia und Chris ist ein Scherbenhaufen.
Diesen grob skizzierten Handlungsrahmen füllt Russell mit unzähligen Details, darunter auch weiteren Figuren wie Lydias jüdische, zionistische Mutter und ihren süßen kleinen Bruder, Anatoles Friseurkollegen Daniel, eine Tunte vor dem Herrn, außerdem Kellner, Freier, sexsüchtige Jungschwule, Töchter der amerikanischen Revolution und vieles mehr. „Brackwasser“ erinnert an die Gemälde der alten Niederländer: ein Marktplatz voller Menschen, die alle ihren Geschäften oder Vergnügungen nachgehen, und ist insofern eine überbordende Momentaufnahme des amerikanischen Alltags gegen Ende des 20. Jhdts. Und die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte – in der literarischen Darstellung versucht Russell zu zeigen, „was es gibt“, und vor allem: alles, was es gibt, zurückzuführen und einzubinden in die Vielfalt an Möglichkeiten, die dem Menschen gegeben sind, und bei denen niemand im voraus sagen kann, zu welchen Ende sie führen. Damit entzieht sich Russell den pädagogischen Ansprüchen des Schelmen- oder Bildungsromans; er inszeniert keine „Heldenreise“ mit dem Ziel der Läuterung, sondern schaut gewissermaßen nur aus dem Fenster und erzählt, was er dort sieht. Das diese Fensterschau dennoch immer wieder zutiefst berührt und sich streckenweise wie ein Krimi liest, beweist die literarische Brillanz dieses Autors. Nein, ich hätte Anatole und Lydia nicht gern am Nebentisch, ebensowenig wie Richard III., Falstaff oder Junker Bleichwang, und ja, die Darstellung der Macht, die der Schönheit junger Menschen innewohnt, ist ganz bestimmt Literatur – wenn sie gelingt, wie in diesem Fall.
Paul Russell ist für deutsche Leser noch zu entdecken – und es geht weiter: 2018 erscheint sein Roman „Über den Wolken“, eine Fortsetzung des Romans „Brackwasser“ 25 Jahre später: Aus Anlass von Anatoles Heirat kommen die drei Freunde wieder zusammen und machen sich ihre Gedanken darüber, was aus ihnen allen geworden ist und was sie damals und seitdem falsch und richtig gemacht haben.

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