Archiv für den Monat: Oktober 2006

Karl May revisited

Im Antiquariat habe ich gerade „Weihnachten im Wilden Westen“ von Karl May wiederentdeckt, ein zu Unrecht viel zu unbekanntes Werk des großen deutschen Volksschriftstellers, und damit wurden unglaubliche Erinnerungen wach: Wie ich im zarten Alter von 10 Jahren die Grundschule verließ und Frl. Godejohann, meine Klassenlehrerin, mir zum Abschied dieses Buch geschenkt hat. Damals fand ich das blöd und hätte viel lieber den „Ölprinz“ oder „Durchs wilde Kurdistan“ gelesen, aber als ich es dann Jahre später wieder las, war das ganz anders. Von der Germanistik als „Höhepunkt der Trivialliteratur des 19. Jhdts.“ klassifiziert, kann man an diesem Werk lernen, wie effektiv sich falsche Gefühle in der Literatur vermarkten lassen. Man stelle sich vor: ich habe Tränen geweint, obwohl mir völlig klar war, dass gerade die Verlogenheit des Schreibens diese Gefühle auslöste. Karl May revisited weiterlesen

Rosa Winkel

Wir erinnern uns: Ende der 1980er Jahre mochte ein Großeil der Bevölkerung der DDR diesen Staat nicht mehr besonders, aber die Verantwortlichen dachten sich wohl: „gar nicht erst ignorieren“ und machten weiter wie bisher. Beim Verlag rosa Winkel ist es umgekehrt: viele Leser haben eine hohe Meinung von diesem schwulen Pionierverlag, aber der Verantwortliche hat die Lust verloren. Innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten ist die Welt so um zwei sehr eigentümliche Einrichtungen ärmer geworden. Bezüglich der DDR schrieb Gremlitza seinerzeit in der „konkret“, man könne das Terrain doch einfach in eine Art Reservat umwandeln, wo alle hingehen können, denen es „hier“ nicht gefällt; leider wurde dieser Vorschlag nicht aufgegriffen, auch wenn er gerade aus heutiger Sicht an Reiz gewonnen hat. Aber was machen wir mit dem Verlag rosa Winkel? Rosa Winkel weiterlesen

Scham und Schande – Auch Buchcover können beleidigend sein

Wer sich beruflich mit schwuler Literatur beschäftigt, liest ja nicht immer nur zum Vergnügen. Man möchte schließlich ein wenig den Überblick behalten und auch mal über den Tellerrand des persönlichen Lesegeschmacks hinausschauen. uch Und so findet man sich plötzlich mit gutem Vorsatz und so genannter Unterhaltungslektüre in der Hand wieder. Das lässt sich schnell mal im Bus oder in der U-Bahn weglesen. Die Pflicht ist erfüllt, die Weiterbildungsmaßnahe absolviert und man hat nicht mal zuviel Zeit verschwendet. Denkt man.
Dann aber sitzt man da in aller Öffentlichkeit und schämt sich. Nicht wegen der schlechten Prosa. Da kriegen die anderen Passagiere glücklicherweise nicht mit. Aber wegen der Cover.
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Eitelkeiten – F.J. Raddatz vs. Philipp Tingler

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Keine Angst, auch wenn das Bändchen „Mein Sylt“ betitelt ist: Fritz J. Raddatz hat nicht die ganze Insel gekauft. Nur ein kleines Fleckchen ,2 Meter auf 80 Zentimeter. Da möchte dereinst der Feuilletonist und Ex-„Zeit“-Redakteur die ewige Ruhe finden. Wie er sich an den örtlichen Pfarrer ranschmeißt, um als Nicht-Syltianer dennoch einen der raren Begräbnisplätze auf der Insel zu bekommen, erscheint mir sehr Raddatz-typisch. Vor allem, weil er selbst hier am Ende alles Irdischen und kurz vor Ende des Buches nicht umhin kann, noch einmal vorzuführen. wie bedeutsam er doch ist: Angesichts seiner letzten Ruhestätte (natürlich „mit Wattblick“) zieht ihm im Geiste eine Trauergemeinde vorbei, all

„die Hunderte(n) von Künstlern … die ich in meinem Leben bewirtet hatte, lauter schluchzende Günter Grass und Susan Sontag, Paul Wunderlich und Alberto Moravia, Hubert Fichte, Henry Miller, Jean-Paul Sartre oder Margret Atwood neben Stefan Heym und Stephan Hermlin.“

Wenig verwunderlich, dass man sich angesichts dieses Namedroppings unangenehm an Raddatz‘ Autobiografie „Unruhestifter“ erinnert fühlt. Philipp Tingler erklärt uns, Eitelkeiten – F.J. Raddatz vs. Philipp Tingler weiterlesen