Alle Beiträge von Joachim Bartholomae

„Deutschland von Sinnen“ – das Problem hinter Pirinçcis und Sarrazins Polemiken

„Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“, so lautet die Polemik des Zuwanderers Pirinçci im Untertitel. Er schlägt damit in eine Kerbe, die der aus Thüringen zugewanderte Thilo Sarrazin schon gut vorbereitet hat. Dem schwulen Leser fällt eine verblüffende Parallele auf. Wie hießen doch gleich die drei Teile von Hans Mayers Standardwerk „Außenseiter“: Judith und Dalila, Sodom und Shylock, mit anderen Worten: Frauen, Homosexuelle und (jüdische) Zuwanderer. Im Gegensatz zu Sarrazins und Pirinçcis Geschreibsel ist dieses Buch derzeit nicht lieferbar – Suhrkamp hat wohl andere Sorgen. „Deutschland von Sinnen“ – das Problem hinter Pirinçcis und Sarrazins Polemiken weiterlesen

„Die Rasenden“ – Karin Beiers „Vorzeitsfamilienmordgemälde“

Wie der unvergessene Liedermacher Ulrich Roski so treffend sang, „Selbst der allergrößte Mist/ zahlt sich irgendwann für irgendjemand aus.“ Nachdem ich einen deprimierenden Abend bei Karin Beiers „Rasenden“ im Deutschen Schauspielhaus verbracht habe, gibt mir dieser „allergrößte Mist“ doch immerhin den Vorwand, auf ein wunderbares Buch hinzuweisen, und, wie ich am 18. Januar merken musste, ein höchst prophetisches. „Die Rasenden“ – Karin Beiers „Vorzeitsfamilienmordgemälde“ weiterlesen

Alain Claude Sulzers Erfindung der Literaturtapete

Wer wie ich berufsmäßig damit beschäftigt ist, der Gegenwartsliteratur neue Werke hinzuzufügen (auch wenn es nur durch die Auswahl von Manuskripten geschieht), interessiert sich naturgemäß für den Erfolg oder Misserfolg anderer Autoren, und er wird versuchen, deren Schreibweise zu begreifen und den Pressereaktionen zu entnehmen, mit welchen Mitteln sie ihren Erfolg erreichen. Aus diesem Grund habe ich mich vor längerem mit den Romanen Joachim Helfers beschäftigt; durch seinen perfekten Kellner wurde dann Alain Claude Sulzer zum Shooting Star und Hätschelkind des Feuilletons. Auf den Kellner von Thomas und Klaus Mann folgte die Familienrecherche Zur falschen Zeit (s. Blog 20.9.2010), und nun (Herbst 2012) das vermeintliche opus optimum Aus den Fugen. Wieder steht die Presse Kopf und wirft mit Beurteilungen um sich, dass es nur so scheppert: „meisterhafte Komposition“, „strahlend üppiger Text“, „ein Kleinod“ und „virtuos erzählt“, na, das macht doch neugierig. Alain Claude Sulzers Erfindung der Literaturtapete weiterlesen

Außenseiter sind sexy

Soeben ist ein kleiner Essay veröffentlicht worden: „Wie der Keim einer Südfrucht im Norden – Kleist, Kafka und andere Außenseiter der Literatur“. Der Text bezieht in mancher Hinsicht kontrovers Position, und es würde mich sehr interessieren, was andere zu diesem Thema zu sagen haben; deshalb eröffne ich mit diesem Eintrag die Diskussion. Das Buch selbst gibt es gedruckt oder als Ebook zu kaufen, man sollte es möglichst gelesen haben, bevor man sich an der Diskussion beteiligt. Außenseiter sind sexy weiterlesen

Stephen Spender und Günter Grass oder was kann die Poesie

Der englische Dichter Stephen Spender beschreibt in seinem Roman „Der Tempel“ aus dem Jahr 1931, was gute und was schlechte Lyrik ist. Als Beispiele nimmt er Siegfried Sassoon und Wilfred Owen. Seine Romanfiguren Wilmot (d.i. W.H. Auden) und Paul (d.i. Spender) führen als Studenten in Oxford dieses Gespräch. Auden beginnt:

„Siggy TAUGT NICHTS. Seine Kriegsgedichte HAUEN NICHT HIN.“
Wilmot betonte bestimmte Worte mit fast absurdem Nachdruck, als wären sie aus der Heiligen Schrift.
„Zählen Sassoons Gedichte nicht zur modernen Lyrik?“, fragte Paul.
„Siggy VERKÜNDET WAHRHEITEN. Er VERTRITT MEINUNGEN. Ein Gedicht über die Kämpfe an der Westfront schließt bei ihm mit der Zeile: ‚O Jesus, lass es enden!‘ Das KANN ein Dichter nicht sagen.“
„Was hätte er dann schreiben sollen?“
„Alles, was ein Dichter tun kann, ist, die GELEGENHEIT zu ERGREIFEN, die die Situation ihm bietet, um ein KUNSTWERK AUS WORTEN zu schaffen. Der Krieg ist einfach Material für seine Kunst. Ein DICHTER kann den KRIEG NICHT BEENDEN. Alles, was er tun ist, ist ein Gedicht zu machen aus dem MATERIAL, das er ihm liefert. Wilfred hat geschrieben: ‚Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist warnen.‘“
„Wilfred?“
„Wilfred Owen, der einzige Dichter, der sich eine EIGENE SPRACHE der Westfront geschaffen hat. Wilfred sagt nicht: ‚O Jesus, lass es enden!‘“

Mehr ist zum Thema Grass im Grunde nicht zu sagen. Aber wie Thomas Steinfeld in der SZ ganz richtig sagt, im Grunde hat Grass einen Leserbrief geschrieben und kein Gedicht.
Spenders „Der Tempel“ wird auf deutsch übrigens im Herbst 2012 neu erscheinen.

Kracht gegen Krüss oder: ein schwuler Helgoländer in der Südsee

Autor beim Verlag Kiepenheuer und Witsch zu sein erweist sich wieder einmal als Abenteuer. Hatte erst vor wenigen Jahren eine anonyme Literaturwissenschaftlerin versucht, Kiepenheuer-Autor Zaimoglu als Plagiator von Kiepenheuer-Autorin Özdamar zu „entlarven“, so wird das Klima nun rauer, indem Kiepenheuer-Autor Diez Kiepenheuer-Autor Kracht als rassistischen Herrenmenschen bloßstellt, es dann aber wohl doch nicht so gemeint hat. Nun ja, andere Verlage, andere Sitten.
Nachdem Herr Kracht in seinem „Faserland“ nicht mehr heimisch ist, befindet er sich auf Reisen, und da er Schriftsteller ist, schreibt er darüber. Damit das nicht ganz so banal daherkommt, verwendet er seine frisch erworbene Ortskenntnis für historische Travestien: „Imperium“ gibt vor, in den pazifischen Besitztümern des letzten deutschen Kaiserreichs zu spielen, wo der versponnene Vegetarier Engelhardt die Welt mit Hilfe der Kokosnuss zu retten versucht. Man denkt sofort Mr. Smith, der in Graham Greenes „Comedians“ auf Haiti vegetarische Produkte in Mode bringen will (in der Verfilmung gespielt von Paul Ford). Für eine Nebenfigur mag das angehen, sich für die Hauptfigur Engelhardt zu interessieren fällt dagegen nicht ganz leicht.
Unter der Überschrift: „Wir wollen nun über die Liebe sprechen“, bekommt Engelhardt unverhofften Besuch: Aueckens, ein blonder junger Mann von Helgoland, sehr beziehungsreich, da Helgoland gerade erst gegen Sansibar und andere Inseln von England eingetauscht wurde. Aueckens ist „ein erstklassiger Mistkerl“ und schwul. Sofort erzählt er, wie er erfolglos versucht hat, einen jungen Helgoland-Touristen recht rabiat zu vernaschen. Den Misserfolg führt er darauf zurück, dieser junge Mann sei ein ungewaschener Jude gewesen. Als er kurz nach seiner Ankunft den malaiischen Boy Engelhardts, Makeli, brutal vergewaltigt, wird er, mit einem runden Gegenstand erschlagen, tot aufgefunden. Makeli verehrt seinen weißen Herrn seitdem noch inniger.
Kracht mag hier ein wenig durcheinander gekommen sein. Selbst heute, wo in der Tat viele Homosexuelle diese Weltgegend als Sextouristen bereisen, sind die heterosexuellen Europäer weit in der Überzahl, umso mehr zu Beginn des 20. Jhdts. Man ist es irgendwann leid, dass der Bösewicht, der im Roman kurz sein Unwesen treibt und dann natürlich sterben muss, so penetrant und einfallslos ein Schwuler zu sein hat. Und man fragt sich, was die Gegenüberstellung des brutalen Vergewaltigers einerseits, des innig verbundenen Freundespaares Engelhardt-Makeli andererseits wohl zu bedeuten haben mag.
Wer sich für deutsche Herrenmenschen im Kolonialdienst S.M. interessiert, dem sei Hans Dieter Schreebs Roman „Hinter den Mauern von Peking“ aus dem Jahr 1999 empfohlen, auch hier ist der Herrenmensch schwul, aber immerhin eine der Hauptfiguren. Kracht ist in Sachen politischer Korrektheit sicherlich nichts vorzuwerfen, dafür ist sein „Imperium“ ganz einfach zu zahnlos, vor allem, wenn es Vergleiche zu Graham Greene provoziert.

Stephen McCauley: Insignificant Others (2010) sind leider wenig signifikant

Der Titel ist ein Wortspiel. Armistead Maupin beendete seine „Tales of the City“ mit dem Band „Significant Others“ (dt. „Schluss mit lustig“), da auf dem Höhepunkt der Aidskrise das Zusammenleben der Schwulen eine andere Verbindlichkeit annahm als zuvor. (Nach einer großen Pause gibt es inzwischen zwei Fortsetzungsbände der „Tales“.) McCauley, der als Autor mit dem Roman „Object of my Affection“ berühmt wurde, benutzt die etwas flapsige Formulierung des „Unbedeutenden Anderen“ als bewusstes Gegenmodell zur großen Liebe der jungen Jahre: Der gesetzte, in fester Beziehung lebende Großstadthomo kann es sich leisten, hin und wieder etwas Unwichtiges nebenher laufen zu lassen. Damit hat er bei mir die Erwartung geweckt, dass sich im schwulen Mainstream der USA vielleicht eine kleine Gegenbewegung zu dem niederschmetternden Spießertum abzeichnen könnte, das mit den Romanen David Leavitts begann und durch die Figur des schwulen Michael in der HBO-Soap „Six Feet Under“ abschließend zum Ausdruck gebracht wurde. Weit gefehlt, statt eine Lanze für die Vielfalt der Lust zu brechen, exerziert McCauley lediglich eine Nullhypothese durch: Die Eingangsthese, eine gute Beziehung könne einige „insignifivant others“ durchaus vertragen, wird im Laufe des Romans zurückgenommen, die holde Zweisamkeit triumphiert. Die auf gut 200 Seiten überaus wortwitzig dahinplätschernde Handlung ist zudem leider zu leicht und luftig angerührt, als dass sie die Fragestellung nebst Auflösung mit dem Maß an Substanz unterlegen könnte, das immerhin die innere Auseinandersetzung mit dem Problem zu einem lohnenden Unternehmen machen würde.
Worum geht’s?
Ricky und Conrad sind seit langem ein Paar. Ricky arbeitet in einer Software Firma, die mit dem Problem zu kämpfen hat, dass die jüngeren Mitarbeiter regelmäßig nach sehr kurzer Zeit den Job wechseln – eine ganz andere Generation, die ganz anders lebt, weshalb es gerade so wichtig wäre, sie zu integrieren. Ricky hat mit zwei Baustellen gleichzeitig zu tun, bis er schließlich lernt, dass Offenheit der beste Weg zu einer Lösung ist, denn die anderen sind zwar nicht vorhersehbar, aber vernünftiger, als man denkt.
Conrad betreibt zusammen mit Doreen eine Beratungsfirma, die Neureichen dabei hilft, für ihre teuren Häuser teure Kunstwerke einzukaufen. Seine Klienten leben überwiegend in Florida und Texas, weshalb er viel auf Reisen ist.
Beide Männer sind in ihren Vierzigern, aber bestens durchtrainiert und sexuell aufeinander abgestimmt: Ricky ist der Ficker. Beide haben wohl hin und wieder andere Affären und nehmen das nicht so genau. Ricky allerdings ist seit mehreren Jahren mit dem verheirateten Hetero Benjamin befreundet, mit der er gemeinsam ein kleines Appartment gemietet hat, in dem sie sich treffen können. Er gibt es nicht zu, aber er ist in Ben verliebt. Ben ist ständig von schlechtem Gewissen geplagt, was ihrem Sex durchaus gut tut. Nachdem die beiden schließlich Schluss gemacht haben, stellt sich heraus, dass Bens pubertierender Sohn ahnt, was sein Vater heimlich treibt, seine Lebenslüge platzt.
Zunächst führt es jedoch zu Komplikationen, dass Ricky eine SMS auf Conrads Handy liest, die von einem Clarke stammt, der das nächste Treffen mit Conrad kaum noch erwarten kann. Es stellt sich heraus, dass Clarke ein Mann Anfang sechzig ist, der in Ohio lebt und recht wohlhabend ist. Clarke möchte gern mehr von Conrad haben, und Conrad fährt für längere Zeit nach Ohio, Ricky und Conrads Geschäftspartnerin Doreen bleiben jeweils „verwitwet“ zurück. In Conrads Abwesenheit begreift Ricky, dass es falsch war, aus der Gewöhnung der langjährigen Beziehung heraus die Lösung bei anderen Männern zu suchen, anstatt diese Energie in die Beziehung zu stecken, und da auch bei Benjamin die Schuldgefühle überhand nehmen, trennen die beiden sich. Conrad kommt früher als erwartet aus Ohio zurück, erklärt, dass das nicht das richtige gewesen sei, und dass sie doch beide ihre Affären bleiben lassen sollten. Ricky sagt ihm, er habe seine schon beendet. Friede, Freude, Eierkuchen.