„Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“, so lautet die Polemik des Zuwanderers Pirinçci im Untertitel. Er schlägt damit in eine Kerbe, die der aus Thüringen zugewanderte Thilo Sarrazin schon gut vorbereitet hat. Dem schwulen Leser fällt eine verblüffende Parallele auf. Wie hießen doch gleich die drei Teile von Hans Mayers Standardwerk „Außenseiter“: Judith und Dalila, Sodom und Shylock, mit anderen Worten: Frauen, Homosexuelle und (jüdische) Zuwanderer. Im Gegensatz zu Sarrazins und Pirinçcis Geschreibsel ist dieses Buch derzeit nicht lieferbar – Suhrkamp hat wohl andere Sorgen.
Hans Mayer bezeichnet diese drei Personengruppen als „existenzielle Außenseiter“; am Umgang mit ihnen müsse sich die europäische Aufklärung beweisen. Er kommt zum Schluss, das Projekt Aufklärung sei gescheitert. Die aktuelle Debatte bestätigt das auf eindrucksvolle Weise. Um das konfliktträchtige Zusammenleben wesentlich verschiedener Personengruppen zu entschärfen, kennt die Menschheitsgeschichte ein probates Mittel, und wahrscheinlich nur dieses eine: man sollte miteinander reden und aneinander Anteil nehmen. Wo ein solcher Dialog versäumt oder gar verweigert wird – Frauen und Ausländer verstecken sich in Schutzräumen, Schwule gehen allen auf die Nerven, aber man redet nicht mit ihnen -, entsteht der wohlbekannte Dampfkochtopf-Effekt: es kommt zur Explosion. Und dann fliegt einem der Sarrazinsche und Pirinçcische Dreck nur so um die Ohren. Während wir jetzt versuchen, das eklige Zeug wegzuräumen, sollten wir uns auch daran erinnern, wie es soweit gekommen ist.
Vor einigen Jahren begannen wir im Männerschwarm Verlag, uns mit einem verblüffenden Sachverhalt auseinanderzusetzen: Schwule (und Lesben) kommen in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht vor. Wir verfassten deshalb ein Schreiben an die uns sympathischen deutschen Gegenwartsautoren, in dem wir sie auf diese Einseitigkeit ihres Personals hinwiesen. Wie sagte die heterosexuelle amerikanische Krimiautorin Toni Fennelli: Über New Orleans zu schreiben, ohne die Schwulen zu erwähnen, wäre wie ein Buch über Alaska ohne Schnee. In Deutschland trifft das zumindest für Berlin und Köln in derselben Weise zu. Wir waren der Meinung, man solle sich mit seinen „schwulen Nachbarn“ gefälligst auseinandersetzen, denn wir selbst gingen davon aus: dieses Getue von Wowereit und Konsorten muss einem gestandenen Heterosexuellen im Grunde ziemlich auf den Senkel gehen. Deshalb wollten wir als schwuler Verlag das Forum bieten, um sich den Frust mal so richtig von der heterosexuellen Seele zu schreiben. Aber: Pustekuchen! Die Erzählungen, um die wir zur späten Wiedergutmachung jahrelanger Ignoranz gebeten hatten, trieften fast durchweg von Gutmenschentum, hart zur Sache zu gehen traute sich kaum jemand. Wer sich selbst davon ein Bild machen möchte, lese „Schwule Nachbarn“, herausgegeben von meinem Kollegen Detlef Grumbach. (Witzige Begleiterscheinung: der schwule Großkaufmann Bruno Gmünder wollte das Buch nicht in seinen Läden verkaufen, weil es ja von heterosexuellen Autoren geschrieben sei – die Borniertheit hat durchaus zwei Seiten!)
Wenn die klugen Leute sich der ernsthaften – und nicht nur politisch-korrekten! – Debatte zwischen den Lebensformen verweigern, kommt die Stunde der Idioten. Weltfremde Autoren sollten sich dann ebenso an die Brust klopfen wie bornierte Buchhändler und Journalisten, die wie vor hundert Jahren Mauern gegen das Fremde aufrichten. Diese Außenseiterdebatte geht nicht auf in der Menschenrechtsproblematik, wie Judith Butler meint. Gleiche Rechte kann immer auch heißen: jedem seine Schublade, wie uns die amerikanische Multi-Getto-Gesellschaft vor Augen führt. Wir müssen einen Schritt weiter gehen und uns in allen Eigenheiten aneinander abarbeiten. Die Literatur könnte dabei helfen.
Ja, lieber Joachim, genau so ist das. Dass Literatur dies leistet, setzt allerdings einen Begriff von der Literatur als Mittel der Aufklärung voraus. Der ist bei Suhrkamp (anderswo sowieso) aber längst einer panischen Unterwerfung unter die Mehrheitsnachfrage gewichen. Wahrscheinlich haben sich die Aussenseiter von Mayer nur noch schleppend verkauft – dann stellt man sie eben ein. Sibylle Lewitscharoff geht dagegen ganz gut … Als Gegengift gegen ihre Volksverhetzung aus Dresden hätte man ganz gut zu meinem neuen Roman greifen können, der sich genau mit den von ihr so klerikal-pornographisch und menschenverachtend aufgegriffenen Fragen des Todes und der Fortpflanzung aus schwuler, aus humaner Perspektive befasst – wenn Suhrkamp ihn denn gedruckt hätte! Tun sie aber nicht …
Siehst Du, und deshalb müssen wir aufrechten Kleinverleger hin und wieder an diese Verpflichtung gegenüber der Aufklärung erinnern. Aber das tun wir ja gerne!
Hm, „Schwule und Lesben kommen in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht vor“? Ok, das war „vor einigen Jahren“. Da möchte ich nur mal ganz beiläufig Pleschinski erwähnen, na ja, der zumindest kommt vor. Ist doch schön.