Soeben ist ein kleiner Essay veröffentlicht worden: „Wie der Keim einer Südfrucht im Norden – Kleist, Kafka und andere Außenseiter der Literatur“. Der Text bezieht in mancher Hinsicht kontrovers Position, und es würde mich sehr interessieren, was andere zu diesem Thema zu sagen haben; deshalb eröffne ich mit diesem Eintrag die Diskussion. Das Buch selbst gibt es gedruckt oder als Ebook zu kaufen, man sollte es möglichst gelesen haben, bevor man sich an der Diskussion beteiligt.
Eine Funktion von Literatur ist es seit jeher, die Art und Weise des Zusammenlebens zu analysieren, auf innere Widersprüche hinzuweisen, Missstände anzuprangern oder ganz direkt Klage zu führen. Es ist das Privileg der Kunst, auch solche „unerfreulichen“ Themen in sinnliche und geistige Genüsse zu verarbeiten. Jeder Stoff verlangt einen bestimmten Stil und eine eigene Form, deshalb ist thematische Breite auch und gerade ästhetisch ein Gewinn. Neue Stoffe haben es jedoch seit jeher schwer, vom Publikum akzeptiert und geschätzt zu werden. Jede Zeit hat ihre eigenen Vorstellungen davon, worüber gesprochen und geschrieben werden darf und soll, und worüber nicht. So waren z.B. die Zeitgenossen Heinrich von Kleists an so schonungslosen Blicken auf die Verhältnisse, wie seine Erzählungen und Theaterstücke sie werfen, definitiv nicht interessiert. Mit ähnlichem Desinteresse hatten auch nach Kleist viele Autoren zu kämpfen.
Das Hollywood-Kino hat seit vielen Jahrzehnten eine Erzählweise etabliert, die in der Mitte des ganz alltäglichen Lebens ihren Anfang nimmt, dann einige Gefährdungen dieser Lebensweise beschreibt und zu einem dezidiert optimistischen Ende gelangt, an dem alles so ist, wie es sein sollte. Dieses Muster ist dann reizvoll, wenn der normative Ausklang als Messlatte für die Realität taugt, mit anderen Worten: wenn der „schöne Schein“ so präzise inszeniert ist, dass er die Kritik an einer weniger schönen Wirklichkeit mit sich führt. Dieses Muster garantiert einen schönen Abend mit starken Empfindungen, verzichtet jedoch von vornherein auf das ureigene Recht der Kunst, Horizonte zu erweitern und ganz andere Möglichkeiten zu zeigen, als im aktuellen Leben verwirklicht sind. Da die meisten Menschen längst viel stärker durch spektakuläre Filme als durch literarische Werke geprägt werden, hat dieses Erzählmuster längst auch auf die Literatur übergegriffen, die den großen Vorbildern des Kinofilms brav hinterherläuft. Man könnte sagen, die Literatur kultiviert die Krise und fürchtet sich vor dem Konflikt wirklicher Alternativen.
Adorno forderte schon in den 1950er Jahren: „Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muss er auf einen Realismus verzichten, der indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft.“ Wenig später wurde folgerichtig der „Tod des Romans“ ausgerufen, und seitdem treten, vor allem in Deutschland, ästhetische Kriterien in der Beurteilung neuer Romanveröffentlichungen stark zurück. Allerdings waren es gerade ästhetische Aspekte, die nonkonformen Perspektiven ein gewisses Maß an Wahrnehmung sicherten. Indem literarische Werke heutzutage fast ausschließlich in Hinblick auf ihren Stoff beurteilt werden, rutscht alles das ins Abseits, was Kritiker wie z.B. Reich-Ranicki mit ihrem apodiktischen „Das interessiert mich nicht“ belegen. Die Folge ist eine stoffliche Verarmung der Literatur einerseits, und durch den Verzicht auf die Treibkräfte der Außenseiter ein Stillstand der literarischen Entwicklung andererseits.
Heinrich Böll hat in seiner Erzählung „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ die Figur eines Rundfunkintendanten geschaffen, den er mit einem Zoodirektor vergleicht, der eigentlich die Kuscheltiere liebt und nur dem Publikum zuliebe die schrecklichen Löwen zeigt. Ich muss oft im Gespräch mit anderen Verlegern an diesen Zoodirektor denken. Es gibt andere Wonnen als die der Gewöhnlichkeit!