Wir hatten hier gelegentlich die Frage aufgeworfen, ob überhaupt und wie Schwule aus der Perspektive der heterosexuellen Literatur und ihres Personals wahrgenommen werden. Alltagserfahrungen, die „wir“ und somit unsere heterosexuellen Gegenüber (in der U-Bahn, beim Einkaufen, auf der Straße) oft machen und aus „unserer“ Perspektive in „unserer“ Literatur auch vorkommen, fehlen ja aus anderen Perspektiven weitgehend. Und der Migrantenszene geht es ähnlich. Wo liest man schon mal was über das ungehobelte Benehmen mancher Jugendclique, die glaubt, die Straße gehöre ihr? (Das ist zwar nicht die Regel, aber es kommt doch vor!)
Jetzt habe ich gerade ein gutes Buch gelesen, in jeder Hinsicht aus dem Rahmen fällt – mit einer kurzen Szene, die ich hier erzählen will. Es handelt sich um Helmut Kraussers Roman „Einsamkeit und Sex und Mitleid“. Die Erzählweise erinnert stark an „Short Cuts“, bemerkenswert ist allein schon das Figurenensemble, innerhalb dessen es beinahe alles gibt: Callboy, Lehrer, Manager, junge Türken und Araber, freche Schülerinnen, religiöse Christen, Lebensmittelhändler, Barfrauen und Sekretärinnen. Weitere Besonderheiten dieses Buchs sind der schonungslose Blick aufeinander und der ebenso schonungslose Umgang, den sie – politisch nicht gerade korrekt, aber in der konkreten Beobachtung doch auch realistisch – miteinander pflegen. Krausser lässt buchstäblich Welten aufeinander prallen. Ein Schwuler kommt zwar nicht direkt vor, aber immerhin ein sehr schräges Bild schwulen Verhaltens: Ein Dr. Stern, in BeÂgleitung seiner Sekretärin und Geliebten Carla, ärgert sich an der StraÂßenbahnhaltestelle über einen dauernd auf den Boden rotzenden Macho-JugendÂlichen türkischer Abstammung. Er sagt etwas. „Was willsde, Alder? Willste Ärger? Oder was? Isch glaub, hab mich verhört. Oder was?“ Der Leser weiß bereits, dass Carla Vize-Meisterin im Kickboxen ist. So ist es jetzt auch Carla, die der Situation eine verblüffende Wendung gibt: „Lass den Kleinen doch in Ruhe. Der ist ja so süß. Und die müssen das machen.“ Die müssen das?, fragt Dr. Stern ungläubig – und dann legt Carla los: „Ja, weißt du, die jungen Schwulen, die sich über ihre sexuelle OrientieÂrung noch nicht so hundertprozentig im Klaren sind, wenn die grad eben einem ein‘ geblasen haben, da bekommen die danach sonen Ekeleffekt, sonen Würgereiz und müssen noch stundenlang spucken.“ Ümal, so heißt der Türkenbengel, verschlägt es die Sprache. Dann: „Sach mal, Alder, was hat deine Tuss da gesacht?“ Dr. Stern korrigiert – „es heißt Tusse oder Tussi, nicht Tuss“ – und wiederholt Carlas Interpretation des Vorgangs. Ümal will schon zuschlagen, doch dazu kommt er dann gar nicht mehr.
Abgesehen davon, dass Carla sich auch nicht gerade freundlich benommen hat und Ümal glimpflich davon kommt, kann Nachahmung nicht empfohlen werden. Dennoch ist der „Kulturkonflikt“ hier witzig und „vielschichtig“ dargestellt, sind die Fremd-Wahrnehmungen treffend pointiert. Auf welcher Seite potenzielle LeserInnen auch stehen: Alle können sie etwas davon haben!