Am 20. April ist der 150ste Geburtstag des dänischen Autors Herman Bang
„Die Isoliertheit der Kreatur, die Vergeblichkeit des Gefühls“, so Klaus Mann: „Bang hat kein anderes Thema.“ Sein Vater Thomas schreibt, er fühle sich Herman Bang „tief verwandt“, erklärt später, er habe „alles gelesen und viel gelernt“. Die Bewunderung Klaus Manns, die Nähe des Vaters zu Herman Bang, haben neben literarischer Wertschätzung eine tiefe, biographische Ursache: ihre Homosexualität. Bang hat aber – anders als Thomas Mann – seine Homosexualität nie kaschiert, wird auch mit Oscar Wilde in einem Atemzug genannt, machte Skandal. Dafür musste er zahlen. Er wurde als „Fräulein Hermine Bang“ verspottet, in einer Weise öffentlich angeprangert, dass er sogar das Land verlassen musste. In seinen Büchern taucht Homosexualität indessen nur in zartesten Andeutungen auf – in der Art, wie in „Das graue Haus“ ein junger Mann mit seinem „armenischen Diener“ umgeht, wie im selben Roman ein „schlanker Diener“ gezeichnet wird, wie in der Erzählung „Sommerfreuden“ ein Herr Verner mit seinem Begleiter auftaucht, der stets der „Gebräunte“ genannt wird. Oder wie der Gutsverwalter Huus, ein ganz und gar „unmännlicher“ Mann in dem Roman „Am Weg“ vor der Innigkeit flieht, die sich im Verhältnis zu Katinka Bai einstellt – als ob er sagen wollte: Diese Liebe ist mir nicht möglich. Was heute „Geschlechterqueering“, also die Auflösung klarer Rollen zugunsten einer ungeahnten Vielfalt genannt wird, betreibt Bang, wenn er beispielsweise von der „Kerlsmarie“ erzählt, von Niels mit dem weiblichen Mund, von der Jungfer Stine mit „Männerbrauen über einem Paar Mädchenaugen“. (Über den relativ späten Künstler-Roman „Michael“, den der dänische Soziologe Henning Bech in seinem Buch „When Men Meet“ unter der Überschrift „Absent Homosexuality“ behandelt (an den Klaus Mann bestimmt auch gedacht hat, als er seinen Tschaikowsky-Roman schrieb), in dem das junge Modell Michael dem alternden Meister Zoret innig die Füße massiert, sollte ich hier vielleicht mal gesondert ein paar Zeilen schreiben …)
Thomas Mann und Herman Bang ähneln einander in der Art und Weise, wie sie sich dem Zwang zur literarischen Verhüllung gebeugt haben, wie sie sich aber auch nach und nach – zaghaft – von diesem Zwang zu befreien versuchten. Diese These stellt der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering auf. In „Forum Homosexualität und Literatur“ 10/1990 hat Detering Herman Bangs „Gedanken zum Sexualitätsproblem“ nach runden 70 Jahren erneut zugänglich gemacht. Bang ist wohl der einzige Autor – zu Zeiten, in denen Homosexualität unterdrückt wurde und vielleicht auch später – der eine eigene Theorie über das Verhältnis von Schwulsein und Kunst entwickelt hat. Geschrieben hat er sie 1909, veröffentlicht hat er sie nicht. Das hat er denn doch nicht gewagt nach all seinen Erfahrungen mit der homophoben Gesellschaft – und die Eulenburg-Affäre war immer noch in Gang. Aber postum sollte sie gedruckt werden – und das ist dann mit einiger Verzögerung geschehen (1912 starb Bang, gedruckt wurde der Text 1922 in der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft).
Bang hat seine eigene „Zwischenstufentheorie“: Die Skala zwischen männlichem Körper/männlicher Seele hier und weiblichem Körper / weiblicher Seele da mit den unterschiedlichen Abstufungen reproduziert sich auch innerhalb des Bereichs der Männer. Es gibt den männlichen Mann, der den männlichen Mann liebt, und den, der den weiblichen Mann liebt. Kerl liebt Kerl oder Kerl liebt Tunte. Und umgekehrt natürlich auch. Vor diesem Hintergrund geht er einige Künste durch. Fangen wir mit einer Entwarnung an:
„Die Tenoristen stehen in dem Rufe von Homosexualität, wie ich glaube, mit keinem besonderen Recht, obwohl die menschliche Stimme im Großen und Ganzen ein sehr entscheidendes Zeichen für die Homosexualität bedeuten kann“.
Über die Schauspieler schreibt er:
„Das Zwitterwesen der Schauspielkunst, in welchem es immer gilt, in einem anderen Wesen aufzugehen, scheint mit dem Zwitterwesen der Homosexualität in enger Verbindung zu stehen. Die allermeisten künstlerisch Begabten, die homosexuell sind, werden eine Neigung für die Bühne haben, weil doch ihr eigenes Doppelwesen dem vom Schauspieler geforderten Doppelwesen – eins zu sein und ein anderes zu scheinen – entspricht. Dieser Drang zur Schauspielerei tritt sogar bei allen Homosexuellen ans Licht. Man wird bei ihnen immer eine große Neigung für Maskenspiele, historische Kostüme und dergleichen finden. Nicht, dass sie sich als Weiber verkleiden, sie haben nur eine geheime Lust, sich zu verpuppen, die Gestalt zu ändern – ein anderes Geschöpf selbst für Momente zu werden.“
(Ob „Maskerade“ in etwas anderem Sinn (die Maske der Unauffälligkeit) auch etwas mit Camouflage zu tun hat, damit, sich zu tarnen, führt er nicht aus.) Anders als der Franzose Fernandez, der große Kunst nur aus der Unterdrückung entstehen sieht und mit der gesellschaftlichen Liberalisierung das Ende großer schwuler Kunst hat kommen sehen, entdeckt Bang ein eigenständiges, positives künstlerisches Potential in der Homosexualität. Davon profitiert auch der schwule Autor:
„Wenn ich mich so ausdrücken darf, hat er von Natur aus einen Januskopf und kann nach zwei Seiten das Seelenleben erforschen. Er bleibt Mann und fühlt doch mit der Seele einer Frau.“
Vor diesem Hintergrund lassen sich viele seiner Frauenfiguren als camouflierte Homosexuelle lesen. Beiden ist gemein, dass Verhältnisse, die Bang erlebt und schildert, ihnen kein Anspruch auf ein eigenes Glück zugestehen. Interessant ist aber, dass er über die Zeit der Verfolgung und Unterdrückung und damit der Camouflage hinaus denkt und – so wörtlich, „die vollkommene Stärke seines Talents“ in der frei entfalteten janusköpfigen Existenz des schwulen Autors sieht:
„Um eine ewige Maskerade zu vermeiden, wendet er sich von sich selbst und seinen eigenen Gefühlen ab und wird als Künstler vor allen Dingen ein Beobachter seiner Mitmenschen, und zwar in den meisten Fällen ein großer Schilderer, weil er sozusagen mit vier Augen sieht.“
Für Bang blieb das Utopie. Er war zeitlebens ein Getriebener, lebte in Kopenhagen, war in Berlin, Prag, Wien oder Paris. 1912 befand er sich auf einer Vortragsreise in den USA, wo er in Utah völlig erschöpft und ausgebrannt, mit nur 54 Jahren, starb. Zu seinem 150sten Geburtstag erschienen neben dem Band „Sommerfreuden“ (Manesse) und dem Doppelpack-Roman „Das weiße Haus“ / „Das graue Haus“ (Insel-TB) auch eine Sammlung von Erzählungen und Reportagen unter dem Titel „Exzentrische Existenzen“ (Insel). Wie ein „Ermittlungsbeamter“ tritt Bang in den Reportagen u.a. der Armut und dem Elend in Kopenhagen gegenüber, berichtet aber auch auf atemberaubende Weise vom Brand des königlichen Schlosses 1884. Unabhängig von der Kraft, mit der er Wort für Wort seine Leser anrührt, zeigen gerade die Reportagen etwas davon, was Bang mit dem „großen Schilderer, der mit vier Augen sieht“, gemeint haben kann. Noch immer führt der großartige Autor jedoch ein Schattendasein. Nach wie vor ist ein Werk erst wieder zu entdecken.
Warum soll man sich heute mit Hermann Bang befassen? Als Chronist einer bürgerlichen Gesellschaft, die es nicht mehr gibt, war er zu Lebzeiten recht populär, aber heute wirkt die Welt, von der er schreibt, vielen zu weit entfernt, als dass spontane Sympathie entstehen könnte. Insofern ist er ein typischer Kandidat für die arg geschrumpfte Gemeinde von wirklich literarisch interessierten Lesern, aber die kommen bei ihm voll auf ihre Kosten.
Da sind zum einen die vielen Verweise: Thomas Mann bezieht sich mit „Tonio Kröger“ sehr direkt auf Bang, und sein „Michael“ ist ein wichtiges Gegenstück zum „Dorian Gray“: in beiden Büchern ist von Homosexualität gar nicht die Rede, und trotzdem sind sie beide mit gleicher Selbstverständlichkeit von schwulen Lesern als Schlüsseltexte verstanden worden. Die Frage, was die Schwulen eigentlich an „Dorian Gray“ finden, ist meines Wissens noch immer unbeantwortet, und vielleicht kann es nützen, Bangs ganz anderen und ganz ähnlichen Roman hinzuzuziehen. Vergleiche sind immer ein guter Weg, um Besonderheiten auf die Spur zu kommen.
Sein in Deutschland ebenfalls (wie auch „Michael“) seit langem nicht mehr lieferbarer Roman „Hoffnungslose Geschlechter“ verdient gerade bei uns besondere Beachtung, weil er geradezu die Vorlage für „Buddenbrooks“ ist. Im Vergleich fällt die deutlich radikalere Sicht Bangs im Vergleich zu Thomas Mann auf, Bang versteckt sich nicht hinter dem genüsslichen Ausmalen bürgerlicher Lebensart und ironischen Kommentaren, sondern haut dem Leser eine ganze Reihe tragischer Schicksale ungeschönt um die Ohren, das Buch wurde nach der Erstveröffentlichung prompt verboten.
Er schreibt, die echte Kraft, die die großen Menschen zu Anfang des 19. Jahrhunderts beflügelt hat, sei in den folgenden Generation im besten Fall einer „nervösen Anspannung“ gewichen, an die Stelle entschlossenen Wirkens ist eine sprunghafte Energie getreten, die sich aus den entgegengesetzten Polen der Wünsche und der Bedürftigkeit speist, also letztlich „nur“ psychologisch ist. Diese Spannungs-/ Entladungsaktivität ist heute so vorherrschend, dass es tatsächlich einen Betrachter aus längs vergangenen Zeiten braucht, um ihre Eigenart zu erkennen; für die Zeitgenossen ist sie einfach „normal“. Dieser Gedanke steckt auch in „Buddenbrooks“, wird dort aber eher humoristisch über die Schopenhauer-Lektüre Thomas B.s veralbert und kaum analysiert.
Auch Heinrich Mann hat sich von den „Hoffnungslosen Geschlechtern“ inspirieren lassen, auch bei ihm wird die Schärfe der Analyse verwässert. Sein Professor Unrath scheitert endgültig, als die Variete-Truppe, in der er den Dummen August spielt, in seine Heimatstadt zurückkehrt. William, der Held Bangs, endet als Theaterautor, und obwohl sein Stück ein großer Erfolg wird, nimmt er sich anschließend das Leben: Sein guter Name auf einem Theaterplakat ist für ihn ein nicht zu tilgendes Zeichen des sozialen Abstiegs. Wo H.M. auf die Knallcharge setzt, entfaltet Bang eine ergreifende Tragödie. Anders als die Manns hat Bang eben nie versucht, seine „nervöse“ Künstlerexistenz mit bürgerlichem Brimborium zu kaschieren, so sehr er sich wohl danach gesehnt haben mag, ein in sich ruhender Pol zu sein, wie er es für die Menschen früherer Zeiten annahm.