Im Märchen siegt stets das Gute. Im Roman mitnichten. Erst recht nicht, wenn der Protagonist eine eigentlich negative Figur ist – gemessen an dem, was politisch korrekt und moralisch vertretbar sein soll – und der Autor sich ihn aber aufsparen muss bis zuletzt, damit die Geschichte nicht vorzeitig zu Ende ist. Was macht man nun mit einem Charakter, der eigentlich recht fies ist, der aber die tragende Figur der Erzählung ist? Man versieht ihn mit Zügen, die sich auch bei jedem Gutmenschen wiederfinden, und beweist damit: auch der Fiesling ist nur ein Mensch. Wenn sich eine Autorin dieser nicht leichten Aufgabe gleich mit ihrem ersten Roman stellt und überdies die Latte noch höher legt, indem sie die Handlung auch noch Jahrhunderte zurück verlegt, verdient dies Anerkennung. Wenn dabei ein Buch entsteht, das einen schwerlich wieder loslässt, um so mehr. Die englische Schriftstellerin Maria McCann, 1956 in Liverpool geboren, Absolventin eines Magister-Artium-Studiums und in Irland lebend, hat sich mit ihrem Buch „As meat loves salt“, in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel „Rotes Glas„, diese Anerkennung erworben.
Schon nach den ersten fünf Kapiteln weiß man, woran man mit dem Protagonisten, Jacob Cullen, ist. Er begeht einen Mord, vergewaltigt seine Verlobte und schlägt den eigenen Bruder fast zum Krüppel. Ein brutaler Held, grausam und absolut unbeherrscht. Man könnte angewidert das Buch aus der Hand legen, wenn da nicht wohldosiert, aber äußerst wirkungsvoll, auch Verständnis geweckt würde für das Handeln dieses Mannes. Und sei es nur, weil man ihn von diabolischen Einflüsterungen gelenkt sieht, angesichts deren man noch gern bereit ist, ihn zu exkulpieren. Auf der Flucht vor der Verantwortung gerät Cullen in die Armee des adeligen Rebellen Oliver Cromwell und begegnet endlich der Liebe seines Lebens – in Gestalt des Kanoniers Christopher Ferris, aus begüterten Verhältnissen stammend und Cullen anscheinend charakterlich überlegen. Ferris ist für den größten Teil des Romans der einzige, der Cullen zu zähmen vermag. Er ist ein Visionär, einer auf dem Kommune-Trip, der vor den Toren Londons eine klassenlose Gesellschaft mit gemeinschaftlichem Eigentum aufbauen möchte. Nur allzu gern möchte man in diesem blonden Moralisten den sympathischen Anti-Antihelden sehen, doch diesen Gefallen tut uns Maria McCann nicht. Auch Ferris hat seine Schwächen, und diese werden dem Verhältnis der beiden Protagonisten letzten Endes zum Verhängnis. Jacob Cullen verfällt Ferris zunächst bedingungslos und folgt ihm in das „Neue Jerusalem“. Doch ein negativer Charakter wäre nicht ein solcher, wenn er nicht auch zwangsläufig an sich selbst scheitern müsste. Cullen ergeht es nicht anders, als er sich schließlich von Ferris betrogen sieht und daraus die Rechtfertigung ableitet, selbst zum Betrüger zu werden – mit fatalen Folgen.
Und so treibt die Geschichte, nachdem sie von einem zähen Beginn über einen redundanten Mittelteil endlich unübersehbar an Kraft gewonnen hat, mit Furore einem brutalen Showdown entgegen. Ohne Kompromisse findet sich der Leser in Trauer, Schmerz und Ungewissheit wieder – und wird daraus von der Autorin nicht mehr erlöst. Ein gnadenlos guter Schluss.
Karl Heinz Bohrer behauptet in seinem Buch „Die Kategorie des Bösen“, dass es das „reine Böse“ nur in der Literatur gebe, d.h. ein Böses, das nicht nur die Umkehrung oder Verfehlung des Guten darstellt. Das ist eine steile These, an der vor allem interessiert, ob evtl. die Literatur etwas hervorbringen kann, das hervorzubringen dem Leben selbst nicht möglich ist. Weiterhin interessiert die Frage, was eigentlich an einem Leben interessant ist, das keine Entsprechung in der Realität hat. Erstaunlicher Weise gibt sich in unserer Zeit fast nur das sehr triviale Horrorgenre den Darstellungen unbedingter Bösewichter hin, und das, obwohl die große Leser- oder Zuschauerschaft solcher Bücher und Filme darauf hinweist, wie sehr das Thema viele Menschen interessiert. Das „reine Gute“ wäre totlangweilig, das Böse ist es nicht – aber warum nur? Vielleicht liegt der Reiz gerade darin, dass in solchen Darstellungen etwas gedacht und geschildert wird, das zu denken möglich ist, obwohl man ihm nirgendwo real begegnet. Demnach wäre das Böse eine Art von Utopie, deren Karriere in einer Zeit, in der niemand mehr an positive Utopien glauben mag, dem menschlichen Bedürfnis, die Grenzen seiner Welt zu überschreiten, zu verdanken ist. Reaktionen auf Bret Easton Ellis‘ Roman „Psycho“ weisen darauf hin, dass der Freiheitsdrang des Amerikaners, nachdem er die Grenze des mythisch-freien Westens erreicht hat und nicht mehr weiterkommt (außer nach Japan …), sich im Vordringen in fremde Körper (statt Länder) austobt, „mal gucken, ob ich da drinnen etwas finde, das mich weiterbringt“. Auch Coopers Aufschlitz-Romane deuten darauf hin.
Nun sind wir glücklicher Weise nicht in Amerika und müssen uns deshalb selbst fragen, was uns an „Fieslingen“ in der Literatur eigentlich interessiert, abgesehen von dem vordergründigen Interesse daran herauszukriegen, ob er bestraft wird oder nicht. In Hannover mag Jacob Cullen noch an den gleichnamigen Ernst August erinnern, aber das hilft nicht weiter. Warum lese ich über einen Mörder und Vergewaltiger? Die zwei wohlfeilen Muster hängen einem zum Halse raus: entweder hatte er eine unglückliche Kindheit oder wurde von „der Gesellschaft“ zu dem gemacht, womit er uns das Gruseln lehrt. Bei Shakespeare gibt es regelmäßig eine dritte Variante: ihm wurde die standesgemäße Erziehung vorenthalten. Das alles (bis auf die heute witzige Erziehungs-These, denn wer hätte noch eine gute Erziehung genossen?) ist kalter Kaffee. Nun heißt McCanns Buch „As meat loves salt“ und unterstellt durch den Titel eine notwendige Beziehung zwischen Mörder und Gutmenschen, wobei nicht ganz klar ist, wer von beiden Fleisch und wer Salz ist (das Böse als Salz in der Brühe des Guten?). Man denkt also an Gilgamesch und Enkidu, einmal halb Mensch, halb Gott, einmal halb Mensch, halb Tier. Über die Sehnsucht des Menschen nach der Tier-Hälfte hat zuletzt Frau Sinisalo in „Der Troll“ geschrieben. (Auch hier: die Suche nach der Gott-Hälfte interessiert außer Benedict kein Schwein!)
Bevor ich mich völlig verzettele also kurz und gut die Frage: was interessiert eigentlich an Fieslingen in der Literatur? Und wie präsentiert man Fieslinge am sinnvollsten, als „Eichmann“, tierliebenden Nachbarn mit unsichtbaren, abgründigen Neigungen, oder als Richard III. mit Klumpfuß? Kann ein Fiesling nicht einfach fies sein, oder wird das, wie Uwe schreibt, schnell langweilig, weil dann schon alles klar ist? Warum verweist ein Fiesling eigentlich per se auf ein böses Ende, liebe Menschen kommen ja auch nicht per se zu einem guten! So viele Fragen.
Von Raskolnikow über Tom Ripley bis zu J.R. Ewing: Geht nicht von bösen Charakteren für die breite Masse der Leser eine eigenartige Faszination aus? Weil die Protagonisten das Unaussprechlich oder Undenkbare tun? Die Protagonisten zu einem für den Leser anziehenden Charakter werden zu lassen, halte ich allerdings immer für eine besondere Leistung des Autors.
Da fällt mir zum Abschluss noch eine Frage ein: Warum kommen eigentlich aus den beschaulichen skandinavischen Ländern (wo bekanntlich nicht einmal die abgestellten Fahrräder an den Bushaltestellen geklaut werden) diese wunderbar gruseligen blutrünstigen Krimis?