Stadler beschreibt den mühsamen Weg seines Helden zum schwulen Coming-out – das stimmt in Hinblick auf den Handlungsbogen vom Urlaub auf Capri zu Beginn bis zum Besuch eines Lovers in den USA am Ende des Romans, aber es stimmt nicht in Bezug auf alles dazwischen. Für die Literatur gilt jedoch der berühmte Satz Helmut Kohls nicht, wichtig sei einzig, „was hinten rauskommt“, im Gegenteil: das, was hinten rauskommt, sollte etwas mit dem zu tun haben, womit der Roman sich hauptsächlich beschäftigt, der Weg ist das Ziel! Aber wovon dieser Roman des Büchnerpreisträgers eigentlich handelt, ist nicht so leicht herauszubekommen. Einmal haben wir Roland (= ein Anagramm auf Arnold) und Rosemarie, die entschlossen sind zu heiraten und sich entspannt auf Capri in der Sonne räkeln. Dort lernen die beiden den Ami Jim kennen; was dann passiert, beschreibt der Klappentext in einem Satz: „Sie verlieben sich.“ Was sich nach einer ménage-à -trois anhört, entpuppt sich im Buch jedoch als simpler Seitensprung Rosemaries, Roland bleibt außen vor, nur einmal lässt Jim ihn „ran“, aber das ist eindeutig als eine Art von Wiedergutmachung gemeint. Allerdings: Roland/ Arnold hätte sich mehr von Jim gewünscht, aber das denkt er nur und sagt es nicht.
Nach diesem Einstieg schmeißt Stadler erst einmal die große „Franzen-Maschine“ an und erzählt ausufernd die Lebens- und Liebesgeschichten anderer Menschen. Der wohlwollende Rezensent könnte das als Spiegelung eines zentralen Themas kommentieren, aber dann muss er schon sehr wohlwollend sein (und Stadler hat das Glück, vom Feuilleton sehr wohlwollend behandelt zu werden), denn ein solches Thema gibt es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. In diese Seitenstränge sind immer wieder kleine Andeutungen zur bisherigen Geschichte Rolands eingeflochten, die als winzige Schlaglichter, eigentlich einzelne Stroboskop-Blitze darauf hinweisen, dass das Thema „Homosexualität“ auf verschiedene Weise schon immer ein Rolle in Rolands Leben gespielt hat. Aber im Stroboskoplicht kann man nun einmal nichts erkennen, und so ist es auch hier.
Wer diese bunt gemischte Sammlung kleiner Biografien überstanden hat – und es sind jede für sich sehr reizvolle Texte, die als separate Erzählungen durchaus eine Veröffentlichung verdient hätten -, bekommt dann Holterdipolter den Rest der Geschichte geboten, die auf Capri ihren Ausgang nahm: Roland und Rosemarie trennen sich, Roland heiratet eine verständnisvolle Freundin (schon leicht als Fag-Hag zu erkennen) und dokumentiert seinen Entschluss, endlich schwul leben zu wollen, mit einem Flug in die Staaten, um dort den schönen Jim wiederzutreffen, der inzwischen jedoch Familienvater und fett geworden ist. Tja.
Arno Schmidt schreibt in seiner furiosen Analyse der Romane Karl Mays („Sitara und der Weg dorthin“), dass der Autor ständig von dem Bedürfnis getrieben sei, seine schwulen Bedürfnisse anzusprechen, und ebenso regelmäßig nach der ersten Andeutung die Biege macht und sich im Unverbindlichen verliert. Diese Tendenz war bei Stadler schon im „Hinreißenden Schrotthändler“ zu erkennen, und seitdem ist er keinen Schritt weiter gekommen. Klar, würde er wirklich die Geschichte Rolands erzählen, wäre seine literarische Karriere wahrscheinlich zu Ende. Wie vor ihm Michael Roes weiß Stadler offenbar genau, welche Dosis Homosexualität Feuilleton und Buchhandel verkraften, ohne übel zu nehmen. Sich daran zu orientieren, ist jedoch feige und unliterarisch. Wie schrieb Detlev Meyer so schön (in „Stern in Sicht“):
„Zwei Wünsche
Ich möchte Elvis Presley
meinen stahlharten Schwanz in die
geile Fresse rammen,
und ich möchte mit dem
Petrarca-Preis geehrt werden.
Die Veröffentlichung des ersten
Wunsches mag die Erfüllung des
zweiten hinauszögern.“
So isses.
Du legst eine „schwule“ Messlatte an den Text; der kann der Roman gar nicht genügen. „Komm, gehen wir“ hat kein eigentlich schwules Thema und das Coming-out Rolands wird allenfalls „mitverhandelt“ (so Gerrit Bartels im Tagesspiegel). Wenn Du Stadler so liest: Stadler beschreibt den mühsamen Weg seines Helden zum schwulen Coming-out – ja, dann hätte er das Thema verfehlt. Worum geht es dann stattdessen?: Wohl um (Er-)Lebbarkeit von Liebe, um die Diskrepanz von Begehren und Liebe. Alle Personen in der „bunt gemischten Sammlung kleiner Biografien“ sind Liebessucher, deren Vorstellung von Glück sich nicht nur nicht erfüllt, sondern die sich darüber hinaus nicht einmal einen Begriff davon machen (können), wonach sie eigentlich suchen. Und darin ist Stadler weniger verwandt mit Jonathan Franzen als vielmehr mit dem anderen Amerikaner Harold Brodkey, der in „Profane Freundschaft“ die lebenslange Beziehung zweier Männer beschreibt, die sich aus einem Begehren speist, auf das die den Beiden bekannten „Begriffe“ nicht zutreffen. In der Erinnerung war’s eine „profane Freundschaft“ – aber gelebt war’s so viel mehr. Ein anderer Roman, der sich in ähnlicher Weise nicht „festlegt“, wäre das „Buch der Erinnerung“ von Peter Nádas, in dem der Ich-Erzähler versucht, seinem Begehren einen Sinn zu (er-)finden oder, wie vmtl. Du in einem Katalog der schwulen Buchladen geschrieben hast, „den Sinn, der in dieser Liebe liegen muß, zu erfüllen“ sucht. Stadler, Brodkey und Nádas sind „Grenzgänger“, Autoren, die sich selbst nie als „Schwule“ definieren würden, die vielleicht „herumeiern“, was ihre sexuelle Identität betrifft. Politisch mag das zu bedauern sein, literarisch eröffnen sich m.E. interessante Perspektiven.
Es gibt in Frankreich auch nur ganz wenige „schwule“ Autoren. Die meisten schreiben AUCH Bücher mit dem Thema. Ich denke, wir müssen uns daran „gewöhnen“, dass es viele – und immer mehr – Autoren gibt, die nur mit dem Thema kokettieren, oder es eben nur antippen. Wie es halt so in der heterosexuellen Gesellschaft gemacht wird! 😉
Es ist nicht nötig, immer eine „schwule Messlatte“ anzulegen. Die meisten Schwulen machen sich’s übrigens auch sehr kompliziert und schwierig.
Man könnte dies mit dem Titel „Ewige Vorlust“ umschreiben…
Du hast in vielem Recht. Wenn man jedoch Franzen und Brodkey mit Stadler vergleicht, so geht der zweite wesentlich analytischer vor als Stadler, wogegen Franzen ganz einfach erzählt, wie Stadler eben. Stadlers Synopse von Liebesversuchen habe ich wohl als solche erkannt, aber mich wundert dann doch, dass er auf Querverbindungen jeder Art ganz verzichtet. Zu erkennen, was diese Geschichten miteinander zu tun haben oder nicht, bleibt dem Leser überlassen, und ich muss sagen: die Art der Probleme ist so unterschiedlich, dass es eigentlich einiger Hinweise des Autors bedurft hätte, damit deutlich wird, worin sich für ihn der Zusammenhang dieser Lebensgeschichten manifestiert.
Da Stadlers Roman mit Capri und Roland, Rosemarie und Jim beginnt, erzeugt er bewusst oder unbewusst die Erwartung, dass die Beziehung(en) dieser Figuren eine besondere Rolle spielt. Auch der Verlag betont diesen Einstieg (und Gaybooks setzt die Handlung mit dieser Beziehung in eins!). Roland und seine schwulen Entwicklungsschritte geistert immer wieder durch die Geschichte, was wiederum den Eindruck erweckt, das sei der rote Faden. Dass der Schluss mit dem Anfang wieder korrespondiert, verstärkt den Eindruck. Doch über Roland erfährt man am wenigsten in dieser Zusammenstellung. Wenn er sich zu sich selber also nicht erklären will, warum bringt er sich dann immer wieder ein? Aus diesen Gründen würde ich gern beim Vorwurf des „Rumeierns“ bleiben, wobei dann jeder selbst entscheiden kann, ob er das auf die Offenheit in erotischen Dingen oder auf die Erzählweise insgesamt bezieht.
„Rumeiern“ – da kann ich Joachim nur voll und ganz zustimmen. Irgendwie hat der Plot gehörige Schwächen. Eigentlich besteht der rote Faden des Romans im „Rumeiern“. Der Protagonist Roland weiß erkennbar nicht, was er will. Und das scheint mir auch das zentrale Thema der Geschichte zu sein. Ein bisschen mehr hätte es aus Lesersicht schon sein dürfen. Zumal es am Anfang noch etwas bunter zugeht. Doch wenn sich dann Roland als der eigentliche Protagonist entpuppt, treten Längen auf. Rosemarie sucht sich einen Mann der wirklich einer ist, Jim entschwindet über den großen Teich, nur Roland eiert. Einmal hofft der Leser (vergeblich) auf eine Zuspitzung, als Jim und Roland zur dörflichen Familienfeier reisen. Aber wieder nix.
Schade, denn ich hatte mir persönlich mehr erhofft: Vielleicht in dem Band eine eigene Erfahrung wiederzufinden. Aber das ist vermutlich ohnehin die falsche Herangehensweise.