Braucht man schwule Kultur? Und wenn ja: wer braucht das? Aus aktuellen Anlässen kommt man immer wieder auf diese alte Frage zurück. Dieses Mal ist es Ralf Königs Entscheidung, die monatliche Geschichte in der schwulen Zeitschrift „Männer“ nicht mehr fortzuführen. Ralf schrieb mir dazu:
„Ich kratz mir immer mühsamer was Schwules, das sich rein schwul ums Schwulsein dreht, aus dem Hirn. Manchmal lauf ich 2 Wochen rum und grübel nur über diese Doppelseite MÄNNER, obwohl ich viel wichtigeres auf dem Tisch habe und meine Gedanken eher dazu bräuchte. Die Szene gibt nun mal nicht allzu viel Neues her, oder ich krieg Veränderungen nicht mehr mit, da ich kaum noch ausgehe und mich das alles gar nicht mehr interessiert. Da kann getrost ein anderer, jüngerer Zeichner ran, der das ganze von vorn aufrollt. Ich bin’s müde, immer nur Sex oder Drugs oder Rockn Roll… Ich möchte in Würde ergrauen …
Was nun weiter wird, ist mir selbst noch nicht klar. Ich brauch etwas Zeit, mich neu zu finden, bin aber guten Mutes, dass da noch einiges kommt, auch Schwules, aber eben nicht immer das Gleiche. Zutiefst davon überzeugt, dass auch ein schwuler Autor sich mit dem, was er zu sagen hat, nicht nur auf seine sexuelle Ausrichtung konzentrieren muss, schreite ich frohgemut dem Horizont entgegen.“
Ich war ziemlich überrascht über diese Einschätzung. Dass „Schwulsein nicht abendfüllend“ ist, wurde schon in den 70er Jahren verkündet, und natürlich findet man bei Ralf König eine Unmenge von Dingen, die mit „schwul“ nichts zu tun hat. In Hinblick auf Ralfs aktuelles Interesse am Zusammenhang von Religion und Gesellschaft fällt mir gleich eine Szene aus Bullenklöten ein:
Am Morgen nach einer Party wird Paul von zwei Zeugen Jehovas geweckt, die an der Tür klingeln. Er führt sie in die völlig verwüstete Küche und fragt: Kann es in dieser Küche einen Gott geben?
Daran ist gar nix schwul, abgesehen von Paul, in dessen Sprechblase diese Worte zu lesen sind.
Auf der Männerschwarm-Startseite steht der Slogan: „Mit schwulen Augen“ – und die sehen natürlich prinzipiell alles, was Hetero-Augen auch sehen, allerdings ist ihr Interesse und damit auch die Genauigkeit des Blicks anders verteilt. Unsere Romane der letzten paar Jahre hatten fast nie mehr ein „schwules Thema“, aber durchaus öfters Kommentare zu allgemeinen Themen aus schwuler Sicht. Wir sind immer wieder überrascht, dass vor allem Buchhändler der Meinung sind, Schwule würden nur übers Ficken schreiben. Sexualität ist in den Werken heterosexueller Autoren und Autorinnen sehr viel präsenter als in denen ihrer schwulen Kollegen. Natürlich wird viel softpornografischer Schrott gedruckt, aber den soll man dann bitte mit heterosexuellen Groschenromanen vergleichen, die auch nicht besser sind. Schrott gibt es nun mal, aber eben nicht nur.
Dass Buchhändler meinen, Schwule schreiben nur übers Ficken, überrascht mich aber nicht wirklich. Auch wenn ich weiss, dass es im Detail wahrscheinlich anders ist. Es ist das, was nach aussen sichtbar ist, und da ist MÄNNER das beste Beispiel. Ich habe mir immer gewünscht, eine schwule Zeitschrift hätte auch ein paar gänzlich unschwule Berichte oder Reportagen im Programm. Aber die Loslösung vom Thema findet kaum statt. Und dann ist schwul sehr schnell ‘Sex‘. Ich schrieb auch Peter Rehberg: ‘Heim & Garten‘ berichtet nun mal auch nur über Heim und Garten. Was soll man da machen? Aber ich meine, die Zeit zumindest in Deutschland 2008 ist reif, so emanzipiert zu sein, das Thema auch mal weitläufig zu umschiffen, ohne die Orientierung zu verlieren. Aber nein: Underwear-Style und Madonna, Porno und Rosenstolz. Gucke ich ’schwule‘ Filme auf DVD, gehts immer wieder um Coming Out und amouröse Sexabenteuer. Selten mal ein anderer Zusammenhang oder Inhalt.
Und unlängst war ich beim Jahrestreffen der Giordano Bruno Stiftung, da sind die Beiräte versammelt: Wissenschaftler, Evolutionsbiologen, Philosophen, Physiker, Meeresforscher… und ich Cartoonist dazwischen. Überall in jeder plaudernden Gruppe anregende, interessante Gespräche über Gott und die Welt. Diesmal aber war ich nicht ‘The only Gay in Town‘. Da war noch ein Homosexueller, der grinste mich schon so auffällig an und outete sich dann als ‘Fan‘. Prompt stand ich da mit dem und wir redeten über – na was? Schwulsein. Über Sex, Gayromeo, Älterwerden in der Szene, Partys, Drogen, Beziehungen… gähn. Ich wurde auf die Dauer ganz unruhig und dann genervt, denn ich wollte gerade h i e r über Gott und die Welt reden und nicht schon wieder über Ausgelutschtes. Ich glaube, er war überrascht über meine Antihaltung, aber das Thema langweilt mich. Wenn Heteros auch nur über ihre Heterosexualität reden würden, täte es eine Giordano Bruno Stiftung wohl kaum geben.
Na ja, „außen sichtbar“ – wer liest schon „Männer“? Andererseits natürlich, wer liest schon Bücher? Obwohl: da verhält es sich nun mal anders. Der eine oder andere musste vielleicht in der Schule Kafkas „Bericht an eine Akademie“ lesen. Kafka betrachtet darin die Menschen mit den Augen eines Hundes. Ein solcher Kunstgriff stößt auf recht großes Interesse der Leser, die jedoch erschrocken zurückweichen, wenn sie Literatur aus der Perspektive ihrer schwulen Nachbarn angeboten bekommen. Ob von Firbank oder Isherwood, Sollorz oder Rehberg, Aadlon, Szymborski oder Scholtens, um nur einige zu nennen: alle diese Autoren zeigen die Welt aus ihren Augen, und das ist so verrückt wie vielfältig. Natürlich gehört auch Sex in diese Welt, aber die „schwule Befindlichkeit“ ist nur ein Aspekt unter mehreren, die Themen sind amerikanische Kultur, Nachwirkungen der DDR, das Nomadenleben junger Akademiker von Zeitjob zu Zeitjob, Familienalltag in der Provinz oder Neonazis. Wenn man das liest, erfährt man, dass schwulen Autoren zu diesen allgegenwärtigen Themen was anderes einfällt als Heteros, vielleicht nichts besseres, aber ihre Beiträge „öffnen (andere) Horizonte“, um es mit den Volksbanken & Raiffeisenkassen zu sagen.
Mir liegt sehr viel daran, dass viele Leser mit Auffassungen konfrontiert werden, die explizit durch ein schwules Leben geprägt sind, ganz einfach deshalb, weil es eine Bereichung der Literatur darstellt. Lichtenberg, der einen Buckel hatte, schrieb vor 300 Jahren: Wer ein Gebrechen hat, hat eine Meinung. Nun ist Schwulsein gewiss kein Gebrechen, aber man wird in einem wichtigen Lebensalter ziemlich unsanft aus dem normalen Alltag heraus gerissen. Klar, viele Schwule wünschen sich ihr Leben lang nichts so sehnlich, wie in diese Normalität zurück zu kehren, aber glücklicher Weise gibt es genügend andere, die heilfroh darüber sind, dass ihnen das erspart wurde.
Wenn ein Autor sich entscheidet, auf Verweise zum schwulen Leben zu verzichten, finde ich das schade und gefährlich, gefährlich für den Autor selbst. Ich beklage noch immer die Geschichte eines Autors, der nach zwei verrückten und irgendwie polymorph perversen Romanen meinte, er müsse jetzt bildungsbürgerlich werden. Was danach als garantiert homofreie Bücher erschienen ist, war leblos und langweilig, und als er nach zirka fünfzehn Jahren zu einem autobiografischen Thema zurückkehrte, hatte er offenbar verlernt, irgend etwas von Bedeutung zu schreiben. Wer sich die Wurzeln abhackt, muss damit rechnen zu vertrocknen. Das ist traurig für den Autor; wirklich schlimm ist daran jedoch, wie viele gute Bücher aus solcher Dummheit heraus nicht geschrieben wurden.
Was gerade in Amiland passiert, ist doch das beste Beispiel:
Obama hat anfangs versucht so zu tun, als spiele es keine Rolle, dass er ein bisschen farbig ist. Da hat er sich getäuscht, es spielt eine Rolle, und seine Leistung besteht ja gerade darin, die Erfahrung, über die ein schwarzer Politiker im Unterschied zu seinen „kaukasischen“ Kollegen verfügt, in der Politik nutzbar zu machen. Er hat allen Amerikanern den „Traum“ zugänglich gemacht, den Martin Luther King von einiger Zeit für die schwarzen Amerikaner geträumt hat. Er betreibt keine schwarze Nabelschau, aber er ist sich bewusst, dass seine Farbe zu den Dingen gehört, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist.
Obama sagt zu recht, das Wunder sind die Wähler, die es schaffen, Unterschiede als solche zu akzeptieren, und trotzdem das Gemeinsame zu wollen. Dazu sind deutsche Heterosexuelle bisher nicht in der Lage, ich habe den Eindruck, derzeit will kein Hetero nur das kleinste Bisschen über Schwule wissen. Das kann sich nur ändern, wenn die begabten schwulen Autoren ihnen wenigstens die Chance dazu geben.
Lieber Ralf, es geht insofern nicht um Schwul oder Nichtschwul, sondern um die Frage: Für die Nische, oder aus der Nische heraus? Du hast lange Jahre beides unter einen Hut bekommen. Dass Dich heute das „für die Szene“ zu schreiben langweilt, verstehe ich sehr gut. Statt „rein schwul ums Schwulsein“ also „teils schwul um Gott und die Welt.“ Warum können eigentlich schwule Aspekte nicht ganz „normal“ einfließen, ohne dass man groß darüber nachdenkt – darin muss doch das Ziel bestehen, und nicht etwa darin, sich zwischen dem einen oder anderen zu entscheiden.
Also, Johanna, möglicherweise drücke ich mich ja undeutlich aus, aber genau das meine ich doch: Ich bin schwuler Autor und seh die Welt durch meine Brille, darum wird es bei mir auch weiterhin schwule Charaktere geben. Die befassen sich aber nicht mehr tagaus, tagein nur mit ihrem Schwulsein! Das tu ich ja auch nicht mehr. Manchmal muss man halt seine Steuererklärung machen oder kauft ne Makrele am Fischstand, und der Steuerberater ist weder attraktiv noch schwul und am Fischstand bedient dich ne Frau. Auch darüber kann ich doch Comics machen, ganz und gar unschwul.
In ‚Prototyp‘ ist auch nichts schwul – wenn man von dem Sadomasoding zwischen Gott und Adam mal absieht. Klar hätte ich Adam am Ende einen behaarten muskulösen Kerl anstatt Eva vorsetzen können, aber warum? Manchmal möchte ich halt mal ne andere Geschichte erzählen.
Das Problem bei MÄNNER ist halt, dass es ne schwule Monatszeitschrift ist und der Comic darum auf Bitte des Chefredakteurs irgendwas mit ’schwul‘ zu tun haben sollte. Ich hatte an eine neue Serie gedacht, vielleicht mal Science Fiction, was ganz abgespacestes, absurde Aliens und so, aber jede Idee muss ich vorher auf ihren schwulen Anteil abklopfen, anstatt mich einfach ins Raumschiff zu setzen und loszudüsen. Ich werd das irgendwann zeichnen, und sehr wahrscheinlich ist der Astronaut auch schwul, aber er wird in Welten vordringen, die vor ihm nie ein Mensch gesehen hat, wenn Du verstehst, was ich meine. (Und wie ich mich kenne, landet er irgendwann doch auf einem Planeten mit halbnackten, behaarten Primaten.)
Will sagen: Ich ‚entscheide‘ mich keineswegs zwischen ’schwul‘ und ’nicht schwul‘. Aber wenn mir ne Geschichte kommt, die nun mal nichts Schwules her gibt, sehe ich keinen Grund, sie deshalb nicht zu zeichnen! So frei sollte sie doch sein, die Kunst.
Nachgeschoben: Irgendwie argumentieren wir aneinander vorbei und meinen das Gleiche. Wieso will man mir überhaupt unterjubeln, ich wolle ‚keine schwulen Comics mehr zeichnen‘? Das hab ich so doch nie gesagt!
Und da frag ich mich gerade: Zeigt sich da irgendein Komplex, eine Befürchtung oder gar Panik, dass es jenseits von ’schwul‘ noch etwas geben könnte? Ist das braten im eigenen Saft s o existenziell? Auch wenn die Herdplatte mal abgekühlt ist und nix mehr brät? Darf man denn nie mal in eine andere Pfanne springen?
Was schreib ich hier, prompt krieg ich Hunger. 😉
Super, wir haben uns offenbar wirklich missverstanden. Wenn „Männer“ einen „ausreichenden Homofaktor“ der Geschichten erwartet, lässt sich eine solche Erwartung eben irgendwann nicht mehr erfüllen. Wir haben übrigens in diesem Jahr gleich zwei Bücher gemacht, die mit Schwul nur um drei Ecken zu tun haben, das ist für mich kein Thema. Und ich hoffe doch sehr, dass es jenseits von Schwul noch sehr viel anderes gibt, aber dem möchte ich mich dann gern als Schwuler nähern, bzw. als die böse alte Frau, die nun mal meiner wahren Natur entspricht. Das macht mir einfach mehr Spaß.
„Böse, alte Frau“? *kopfkratz*
Ich denke, es ist das Recht eines Schwulen, beim Älterwerden immer mehr Selbstbestimmung zu entwickeln, statt immer nur Gefordertes zu „liefern“…
Ich bin ein schwuler Buchhändler und hab ca. 10 Jahre lang „Schwulensendungen“ im benachbarten Ausland bei Basel gemacht. Es ist mir eigentlich immer etwas eingefallen…
Ich habe mich immer auch für die Angelegenheiten der Heteros interessiert und dabei manches „gesehen“, weil ich eben „draussen vor“ lebe! Und noch heute ernte ich Lacher, wenn ich mich über Heteros nerve, oder , mich über sie lustig mache!
Ich habe auch mal „Schwule Predigten“ geschrieben, die sich nicht unbedingt ums Schwulsein als solches drehten. zB: Auffahrt, oder wenn der Geliebte entschwindet. Oder über Ostern: Wenn der Liebende am Kreuze hängt. (Sh. mein Blog unter SEITEN > Thommens schwule Predigten)
Es wäre sowohl für Homos als auch für Heteros unterhaltsam, ihr Leben vergleichend darzustellen – jetzt, da sie sich so sehr ähnlich werden… Schreib doch mal was über SCHWULE BAUERN! Das ist jetzt hochachtuell!
Auch aus der Schwulen-Geschichte lässt sich einiges zeichnen (Ich denke zB an den MAUS-Comic!)
Lieber Ralf König! Mir ist überhaupt nicht bange um Deine Zukunft, was das Zeichnen betrifft!
Liebe Grüsse von der Sozialtante, Schwulenpapst, (zwei Nicknamen, die ich „bekommen habe)
Dein Peter Thommen (58)
P.S. Queer as Folk (US-Version) kann ich mir leider nicht ansehen, das ist mir viel zu „hetero“! Auch hat es mir zuviele Klischees auf dem Haufen.