Berlin, 23. November 1943: Die Royal Air Force fliegt ihre Bombenangriffe auf die Hauptstadt des Deutschen Reichs, das Propagandaministerium arbeitet unverdrossen an Durchhalteparolen und Endsieglügen. In der für die Übersetzungen ins Russische verantwortlichen Abteilung erklärt einer der Mitarbeiter plötzlich, dass „England das zivilisierteste Land der Welt“ sei. Er wird sofort nach Hause geschickt; nachdem seine Wohnung durch Bomben zerstört wurde, taucht er unter. Er fürchtet die Gestapo, war schon 1941 wegen homosexueller Handlungen verurteilt worden und steht deshalb bereits unter Beobachtung. Ihm blieben drei Wochen, bis er entdeckt und verhaftet wird. Am 10. Januar 1945 stirbt er im KZ Neuengamme
Der Mann, dessen Geschichnte hier erzählt wird, ist der 1900 geborene Sergej Nabokow, der jüngere Bruder des berühmten Schriftstellers Vladimir Nabokov. Die Fakten über sein Ende sind dürr, nicht einmal der offizielle Grund für seine zweite Verhaftung ist verbürgt, doch der amerikanische Autor Paul Russell nimmt sie zum Ausgangspunkt seines Romans über das Leben seines weithin unbekannten Helden. „Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow“ nennt er das Buch, das sich dennoch auf zahlreiche Spuren stützt, die Nabokow in Briefen, in den Biografien seiner Zeitgenossen oder auch im Werk seines Bruders hinterlassen hat. Souverän verbindet er seine Recherche über Nabokows Leben mit dem, was wir heute über die zeithistorischen Umständen, das kulturelle Leben und den Alltag der Menschen wissen: So könnte Nabokows Leben ausgesehen haben. Russel erzählt vom Leben der Familie im vorrevolutionären Petersburg, von den Umbrüchen der Oktoberrevolution und von Sergejs Flucht ins Londoner Exil, nach Berlin, Paris
und wieder Berlin. Russell erzählt das Leben des „schwulen kleinen Bruders“, des ungeliebten Kindes, das seine von ersten schwulen Erfahrungen mit seinen Mitschülern träumt, in den Ferien auf dem Land ein paar Bauernjungen beim Wichsen zuschaut, dem seine Neigungen aber dann wegtherapiert werden sollten. Als Jugendlicher wird Nabokow in die Welt der St. Petersburger Klappen und „Päderastenbälle“ eingeführt, in Cambridge, wo er mit seinem Bruder studiert, verliebt er sich in den Kommilitonen Hugh Bagley. In Berlin erlebt er die schwule Szene, begegnet in der Adonis-Bar Magnus Hirschfeld – in derselben Nacht, in der sein politisch liberaler Vater, der vor den Bolschewiken aus Petersburg geflohene war, von Anhängern des Zaren ermordet wird. Die Brüder entzweien sich, Sergej geht als Korrespondent einer russischen Exilzeitschrift nach Paris, verliert sich dort beinah in dem aufregenden Leben der Boheme, hat unter anderem eine Liaison mit Cocteau, lernt Picasso, Strawinski und andere Berühmtheiten kennen und verkehrt im Salon Gertrude Steins. Schließlich findet er seine große Liebe: den österreichischen Industriellensohn Hermann Thieme, der ihn immer wieder mit auf das Familienschloss Weißenstein in Tirol nimmt. Dort werden sie denunziert und 1941 verhaftet. Hermann wird ins „Strafbataillon 999“ gezwungen und überlebt den Krieg, Sergej wird nach fünf Monaten aus der Haft entlassen und geht nach Berlin.
Russel erzählt diese zwischen Fakten und Fantasie oszillierende Lebensgeschichte in zwei ineinander verschachtelten Strängen, in Ich-Form, als autobiografischen Bericht. Der eine Strang beginnt am 23. November 1943 mit Nabokows Entlassung aus dem Propagandaministerium. In elf mit der Ortsangabe Berlin und dem jeweiligen Datum versehenen Kapiteln werden die Leser Zeugen der folgenden drei Wochen: des Untergangs der Stadt im Bombenhagel, der Angst Nabokows vor der Verhaftung durch die Gestapo, seiner heimlichen Treffen mit einem Kollegen aus dem Ministerium, seiner Bemühungen, irgendetwas über den Verbleib Hugh Bagleys zu erfahren, der als Bomberpilot über Deutschland abgeschossen worden war. Während die Welt draußen buchstäblich zusammenbricht und Nabokow vor der Gestapo untergetaucht ist, in dieser individuellen wie allgemeinen Endzeitstimmung nimmt er „Zuflucht“, so Russels literarische Konstruktion, zum Schreiben: Nabokow legt sich Rechenschaft ab, wie er, Europa und die Welt in diese Lage geraten sind. Das Papier, auf dem er sein Leben niederschreibt, hatte er noch im Büro mitgehen lassen – es trägt das Wasserzeichen des Propagandaministeriums. Dieser zweite Strang des Romans nimmt mit 38 im Rückblick verfassten Kapiteln den weitaus größeren Raum ein. Russel taucht tief in die Zeit ein und verbindet ebenso interessant wie spannend die politischen Rahmenbedingungen, die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge und das persönliche Schicksal seines Helden. Gefangen – oder ins „Exil“ verbannt – war der schwule Sergej auch schon, als er noch wohlbehütet im Petersburger Elternhaus lebte. Auf der einen Seite hat er unter dieser Erfahrung gelitten, auf der anderen Seite hat sie ihn immer wieder zu abenteuerlichen Ausbruchsversuchen angestiftet, hat sie ihn doch auf die Spur seines Lebens gesetzt. In seinem eindrucksvoll geschilderten Leben in der russischen Exilgemeinden in Berlin und in Paris wiederholt sich diese Erfahrungen. Wie Sergej Nabokow unter diesen Bedingungen in Paris dem Opium verfiel und dann katholisch wurde, wie er und Vladimir Nabokov sich zaghaft wieder einander nähern, mag in die Nähe des Klischees führen, doch findet Russell in der Härte der Realität geeignete Gegenmittel. Von Ferne beobachtet Sergej den literarischen Erfolg, den unaufhaltsamen Aufstieg des erst in Berlin gebliebenen und unter dem Pseudonym „Sirin“ schreibende Wolodjas und fühlt sich bei der Lektüre der ersten Romane tief dadurch verletzt, in welcher Weise er selbst und seine jugendlichen „Verfehlungen“ darin verarbeitet werden. Nach einer Lesung Sirins in Paris sprechen sich die beiden ein erstes Mal nach langen Jahren aus – es entwickelt sich sogar ein stabiler Briefkontakt zwischen Berlin und Paris. Bis Sergej den Bruder in Berlin besucht – die Nazis sind schon an der Macht – und Wolodja ihm ohne Umschweife eröffnet, dass seine Frau all die Briefe an Sergej geschrieben habe. Indirekt, ganz am Rande, zeichnet Russell in solchen Szenen auch ein interessantes Bild des großen Vladimir Nabokov, der dem Bruder dann aus Berlin nach Paris folgt, nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Frankreich nach Amerika auswandert, während Sergej nach seiner Haftstrafe den Übersetzerjob in Berlin annimmt. Der Roman endet am 15. Dezember 1943 mit dem Klopfen der Gestapo an seiner Tür – die Zuflucht ins Schreiben ist an ihr Ende gelangt.
In einem Nachwort nennt Paul Russell die Quellen, auf die sich seine Fiktion stützt und legt damit zugleich offen, dass vieles auch ganz anders gewesen sein könnte. Doch danach, was „wirklich“ und was „unwirklich“ ist in diesem Roman, fragt nach der Lektüre niemand. Seine Kraft liegt in der Wahrhaftigkeit, mit der sich der Autor diesem einzelnen Individuum und seiner Zeit nähert. Er gibt tiefe und glaubwürdige Einblicke in das Leben eines im Jahr 1900 geborenen Schwulen, das auf ganz besondere Weise mit der europäischen Zeitgeschichte verbunden war, und an das sonst fast nur noch der Eintrag im Totenbuch des KZ Neuengamme erinnert.
Paul Russell: Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow.
Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Frings,
Edition Salzgeber im Männerschwarm Verlag 2017, 320 Seiten, € 24