Nach dem großen Erfolg des Romans „Das verlorene Wochenende“ (1944) veröffentlichte Charles Jackson nur zwei Jahre später seinen zweiten Roman. Er hatte dazugelernt: War der Debut-Roman noch thematisch strikt auf die Analyse der Alkoholiker-Psyche ausgerichtet, so nimmt „Die Niederlage“ die Hilflosigkeit der Amerikaner in Geschlechtsdingen ins Visier. Es ist die Rede von erotischer Schwärmerei unter Schülern, rigider Keuschheitserziehung junger Mädchen, die später schwere physische Behinderungen beim Geschlechtsverkehr zur Folge haben, von Macho-Identitäten, die Frauen zu austauschbaren Sex-Automaten erniedrigen, und unterwürfigen Weibchen, die solchen Machos auch noch nachlaufen. Die Liste ließe sich beträchtlich fortsetzen. Doch wenn ein deutscher Rezensent das Buch, das nach 50 Jahren nun endlich auf Deutsch erschienen ist, in die Finger bekommt, landet es in der Schublade „homosexuelle Emanzipationsliteratur“. So z.B. in der heutigen Rezension der FAZ (15.11.16): „Wunsch- und Albtraum“:
Der Roman „schildert mit beklemmender Eindringlichkeit, wie dem wohlsituierten Familienvater die Grundlagen seiner Existenz wegbrechen.“ Was für ein Unsinn. Vielmehr bemerkt der Familienvater, dass die Grundlagen seiner Existenz nichts taugen. Das halte ich für einen nicht ganz belanglosen Unterschied.
Charles Jackson wurde erotisch von Männern und Frauen angezogen, und er lässt im Roman seinen Helden John Grandin einen langen inneren Monolog halten, zum Thema: In sexuellen Dingen ist alles eine Frage der Abstufung. Alfred Kinsey kam einige Jahre später in seiner empirischen Sexualforschung zum selben Thema – hatte jedoch das Glück, deshalb nicht reflexhaft als „schwuler Sexualforscher“ abqualifiziert zu werden. Dabei waren seine Aussagen zur Homosexualität zweifellos die spektakulärsten und am gierigsten rezipierten Ergebnisse seiner Forschungen.
Als das deutsche Fernsehen in den 90er Jahren das Thema Sex entdeckte, wurden mit Matthias Frings und Ernie Reinhardt zwei schwule Männer die Sexualaufklärer der Nation. Vielleicht interessieren sich Heterosexuelle zu wenig für Sex, um sich selbst mit solchen Fragen zu beschäftigen, ich weiß es nicht. Die berühmt-berüchtigte Studentenbewegung der 68er brachte es gerade mal zu Sprüchen wie „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, und zu haremsartigen Wohngemeinschaften mit gockelhaften Männchen (Teufel, Langhans) im Zentrum. Doch diese irren Attacken auf die Kleinfamilie waren nicht von Dauer. Die Feministinnen ließen sich nach den Gruppenabenden vor den Schutzräumen der Frauenzentren wieder von ihren Mackern in Empfang nehmen, und die halbherzige „Männerbewegung“ der 80er Jahre versandete schnell. Trotz hohem Gewaltpotenzial und pädagogischer Inkompetenz fällt den Heteros anscheinend nix anderes ein als Vatermutterkind. Dabei müsste sich 2016 doch eigentlich herumgesprochen haben, dass dieses recht schlichte Verhaltensmuster der komplexen menschlichen Persönlichkeit nicht gerecht wird.
Doch wie Georg Christoph Lichtenberg so schön gesagt hat: Wer ein Gebrechen hat, hat eine eigene Meinung. Auch John Grandin beginnt erst in dem Moment über die Absurdität der Geschlechterordnung nachzudenken, als ihm bewusst wird, dass er selbst in diese Ordnung nicht hineinpasst. Charles Jackson, der uns von Grandins Schicksal erzählt, beschreibt präzise und ausführlich die Kontextmerkmale dieser Geschlechterordnung, nicht zuletzt anhand zweier weiterer Ehepaare, die sich auf völlig andere Weise mit dieser Ordnung arrangieren bzw. auseinandersetzen. Als ich den Roman das erste Mal las, hätte ich mich beinahe gegen eine deutsche Übersetzung entschieden, weil Themen des schwulen Lebens darin überhaupt keine Rolle spielen. Doch schon nach kurzer Überlegung wurde mir klar, dass genau darin die Stärke dieses Buches liegt: Es zeigt, was es bedeutet, heterosexuell zu sein, und dass nicht alle Menschen für ein solches Leben gemacht sind. Wie Frings und Reinhardt in ihren Sendungen „Liebe Sünde“ bzw. „Wa(h)re Liebe“ war es wohl wieder einmal soweit, dass ein Schwuler den Heteros den Spiegel vorhalten musste. Doch das heterosexuelle Publikum und auch das Feuilleton kneift einfach die Augen zu.
Charles Jacksons Roman „Die Niederlage“ ist kein „homosexueller Emanzipationsroman“, sondern ein flammendes Plädoyer für eine neue Geschlechterordnung, von der, rein zahlenmäßig, vor allem die heterosexuellen Mitbürger profitieren würden. Doch die scheinen im Zustand der „doppelten Depravation“ zu leben, um einen Begriff des alten Marx zu verwenden: Sie sind nicht nur verkrüppelt, sie merken es nicht einmal. Das wird wahrscheinlich noch ein ganzes Weilchen recht mühsam bleiben.