Charles Jackson Roman „Die Niederlage“ und die Rezeption in Amerika

In diesen Tagen erscheint Charles Jacksons Roman „Die Niederlage“ aus dem Jahr 1946 zum ersten Mal auf Deutsch. Es handelt sich dabei um einen der ersten in den USA veröffentlichten Romane, die das Thema „männliche Homosexualität“ in das Zentrum der Handlung stellen. Ich habe deshalb einmal nachgeschaut, wie die amerikanische Literaturwissenschaft diesen Roman behandelt, und das Ergebnis war einigermaßen überraschend.

Worum geht es im Roman? Kurz und knapp: Ein New Yorker Literaturprofessor erliegt während eines Urlaubs auf der Insel Nantucket dem Charme eines jungen Offiziers; seine Frau verlässt ihn, und als er seine Gefühle schließlich dem Offizier offenbart, schlägt der ihn nieder.

Roger Austen beschreibt in seiner schwulen amerikanischen Literaturgeschichte aus dem Jahr 1977 die homoerotischen Gefühle der Hauptfigur John Grandin als Faszination durch schöne junge Soldaten, in der Realität und auf Fotos in den Magazinen, die er liest. Tatsächlich sieht Grandin diese jungen Männer jedoch als wandelnde Leichen, einerseits empört ihn die „Verschwendung“, die darin liegt, all diese Männer in den Tod zu schicken, andererseits ist er besessen von der Schönheit „toter Jugend“. Für diese morbide Stimmung stehen die Gedichte Housmans, die Grandin immer wieder liest, und ein Foto toter Soldaten am Strand einer pazifischen Insel in der Zeitschrift Life. Nur Cliff Hauman selbst, der junge Marine, dessen Charme Grandin erlegen ist, hält den Krieg offenbar für so etwas wie einen Pfadfinderausflug, aber davon sagt Austen nichts, auch nicht davon, dass die Initiative für den engen Kontakt zwischen Grandin und Hauman jederzeit von Hauman ausgeht. Wie flüchtig seine Lektüre des Romans offenbar war, sieht man auch daran, dass er den Ort der Handlung von Nantucket nach Cape Cod verlegt.

Nicht nur oberflächlich, sondern geradezu abstrus ist die Darstellung des Romans in James Levins Literaturgeschichte von 1991, „The Gay Novel in America“. Er übersieht, dass Grandin den Marine-Offizier nicht erst auf der Insel, sondern bereits im Zug trifft, und auf der Fähre Bekanntschaft mit ihm schließt, und er verdreht den Handlungsablauf der entscheidenden letzten Begegnung der beiden in New York: Es macht durchaus einen Unterschied, ob der junge Offizier zuerst Sexgeschichten erzählt und danach duschen geht (Levin), oder ob er gleich nach seiner Ankunft duscht und sehr viel später beginnt, von Sexaffären im Fronturlaub zu berichten (Jackson). Levin zufolge offenbart Grandin seine Gefühle, als Cliff vom Duschen kommt; im Roman besteht zwischen diesen beiden Handlungselementen kein Zusammenhang. Levin schreibt, Grandin befürchte, durch seine Zuneigung zu Cliff zu verweiblichen, wörtlich: „zu einer aufgedonnerten Tunte zu werden“, und sei zu der Schlussfolgerung gekommen, homosexuelle Männer sollten ihre Leidenschaften kontrollieren und nicht ausleben. All das ist vollkommener Unsinn. Grandin entwickelt stattdessen in Gedanken eine Theorie der menschlichen Sexualität, die Kinseys zwei Jahre später veröffentlichte Forschungsergebnisse geradezu vorwegnehmen:

„Dabei war all das nur eine Frage der Abstufung, angefangen beim Professor, der das Schwein gevögelt hatte (so albern das auch klang), über den Lehrer, Philanthropen, Geistlichen oder Bankier, der in einer Hafenspelunke oder einem billigen Hotel an der West Side von einem Matrosen zusammengeschlagen wurde, über die aufgedonnerte Tunte, die am Riverside Drive nach echten Kerlen und Soldaten Ausschau hielt, den wundervollen Tänzer oder Künstler, dessen Kunst ohne seine Neurose undenkbar wäre, oder den Pfadfinderleiter oder Direktor einer Jungenschule, dessen sublimierte Leidenschaft für Jungs in kurzen Hosen ihn für seine beruflichen Aufgaben bestens prädestinierte, bis hin zu John Grandin selbst und dem gut angepassten, glücklichen Bill Howard [ein anderer Urlauber auf Nantucket]; auch in die andere Richtung war es von dort aus nur eine Frage der Abstufung – von Bill Howard zum sexbesessenen Handelsvertreter, zum verheirateten Mann, der mit außerehelichen Affären angab, die an Satyriasis grenzten, zum Verführer von kaum der Pubertät entwachsenen Mädchen, zum brutalen Vergewaltiger und zum sogenannten Sex-Psychopathen, dessen Sucht nach kleinen Mädchen in Mord und Verstümmelung kulminierte. All diese Menschen waren bedauernswert, hilflos oder tragisch – sie alle, mit Ausnahme von Bill Howard, dem Glückspilz.“

All diese Schlampigkeiten sind jedoch noch nicht das eigentliche Problem. Wie provinziell die amerikanische Literaturwissenschaft heute ist, zeigt sich daran, dass beide Wissenschaftler vollkommen übersehen, was Charles Jackson hier tut: Er erzählt Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ unter veränderten Rahmenbedingungen noch einmal neu. Diese Ahnungslosigkeit ist umso verblüffender, als bekannt ist, dass Jackson und Thomas Mann befreundet waren. Austen, der seine Darstellung mit einer Übersicht über die Pressereaktionen auf „The Fall of Valor“ beendet, erwähnt mit keinem Wort, dass Thomas Mann einen längeren, lobenden Brief an Jackson geschrieben und diesem gestattet hat, diesen Brief in der New York Times als Werbung für den Roman abzudrucken.

Im Nachwort zur deutschen Ausgabe gehe ich u.a. auf die Parallelen zum „Tod in Venedig“ ein (hier ein Auszug daraus):

Im ersten Teil des Romans beschreibt Jackson, wie Grandin während der Zugfahrt unverhofft in ein lächelndes Gesicht blickt:
„Als er Grandins Sessel erreichte, geriet der baumlange Kerl ins Straucheln und musste sich mit der Hand am Gepäcknetz über Grandins Kopf festhalten, um nicht gegen das Fenster zu prallen. In dieser instabilen Haltung sah er auf ihn hinab und lächelte. John Grandin gelang es nicht sofort, das Lächeln zu erwidern; es war das mit Sicherheit umwerfendste Lächeln, das er je gesehen hatte, und er war wie vom Donner gerührt. Als er sich gefangen hatte, war der Soldat schon gegangen.“
Im Moment der Überraschung wird die Selbstkontrolle außer Kraft gesetzt, und authentische, wenn auch vielleicht ungewollte Regungen brechen sich Bahn. Auf diesen Mechanismus verweist das Macbeth-Zitat, das Jackson dem Roman vorangestellt hat: „Unvorbereitet, ward nur des Mangels Diener unser Wille.” Schon dreißig Jahre vor John Grandin wurde der Urlauber Gustav von Aschenbach durch ein Lächeln in seinen Grundfesten erschüttert:
„Er war der teuren Erscheinung nicht gewärtig gewesen, sie kam unverhofft, er hatte nicht Zeit gehabt, seine Miene zu Ruhe und Würde zu befestigen. Freude, Überraschung, Bewunderung mochten sich offen darin malen, als sein Blick dem des Vermissten begegnete, – und in dieser Sekunde geschah es, dass Tadzio lächelte: ihn anlächelte, sprechend, vertraut, liebreizend und unverhohlen, mit Lippen, die sich im Lächeln erst langsam öffneten. (…) Sonderbar entrüstete und zärtliche Vermahnungen entrangen sich ihm: “
Ein Mann mittleren Alters, zutiefst erschöpft, reist auf eine entlegene Badeinsel; dort wird er vom Anblick eines schönen Jünglings verzaubert, und unter dem Ansturm sinnlicher Reize gerät der Primat des Geistes, dem er stets gefolgt ist, ins Wanken. Um ihn herum sterben die Menschen, der Held driftet „aus dem Konkreten ins Nebulöse und Irreale“ und endet tragisch: Um die Geschichte eines Mannes zu erzählen, der unfreiwillig mit tief in seinem Innern schlummernden homoerotischen Wünschen konfrontiert wird, griff Jackson ganz offensichtlich auf die Erzählstruktur von Thomas Manns berühmter Novelle „Der Tod in Venedig“ zurück, die er schon in den 1920er Jahren gelesen hatte.
Wie ähnlich, wie unterschiedlich sind die beiden Werke? Wie inszenieren Mann (1912) und Jackson (1946) die schicksalhafte Persönlichkeitsveränderung ihrer Protagonisten? Thomas Mann verschmäht die psychologische Herangehensweise an sein Thema, stattdessen erfüllt sich Aschenbachs Schicksal in einer mythologisch objektivierten Welt. Sein apollinischer Held wird vom Dionysoskult eingeholt – der Gegensatz apollinisch-dionysisch war in der deutschen Literatur seit Schelling und Nietzsche fest verankert. Als ihn auf einem Spaziergang die Reiselust überkommt, sieht Aschenbach „eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und schlammführenden Wasserarmen, [und] zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln.“ Dieses Szenario wird in der Sekundärliteratur als Beschreibung des Gangesdeltas identifiziert; Indien ist Ursprungsort von Cholera und Dionysoskult, die in ihrem Zusammenwirken die westliche Zivilisation bedrohen, oder, wie Vargas Llosa in seinem Aufsatz „Der Ruf des Abgrunds“ folgert, „den politischen und sozialen Verfall eines Europa [symbolisieren], das im Begriff stand, sich selbst zu zerstören.“ Die verbotene Liebe zu einem engelsgleichen Jungen ist lediglich eine Verlockung des Dionysoskults und damit nur indirekt Ausdruck der Persönlichkeit des Liebenden.
Charles Jackson löst dieses monolithische Gebilde auf. Zwar steht auch bei ihm die Welt im Begriff, sich selbst zu zerstören, doch findet dieser zerstörerische Kampf nicht in der Heimat, sondern im fernen „Bambusdickicht“ pazifischer Inseln statt. Stellvertretend nennt er die Schlacht um Guadalcanal, in deren Verlauf Cliff Hauman schwer verwundet wurde. John Grandins „unheilvolle Schwärmerei“ richtet sich auf den männlichen Krieger, der den Angriff der Barbaren abzuwenden versucht und dabei sein Leben riskiert. Ohne die Uniform der Marines wäre Hauman einer jener jungen Männer, die Grandins Interesse „nicht für fünf Minuten erregen“ könnten. Insofern sind die Objekte der verbotenen Begierde in beiden Werken grundverschieden. Tadzio als Todesbote ist ein ephebenhafter Hermes psychopompos:
„Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit …“
Doch im realen Weltkrieg ist der Todesbote ein homerischer Held wie Cliff Bauman:
„… Hektor oder Achilles –, oder auch Lancelot (weit eher als Galahad), Siegfried, der Jason der Argonauten – einer der Männer, die ihn durch seine Kindheit begleitet hatten. Tausendmal war er auf der windumtosten Argo über ein Meer gefahren, das so dunkel war wie roter Wein, er hatte mit den Männern dieser männlichen, bunt zusammengewürfelten Mannschaft gegessen, geschlafen, gekämpft und geliebt. Und dort stand nun einer von ihnen, der Inbegriff ihrer Tugenden, und würde gleich zu ihm kommen und vertraulich zu ihm sagen.“
Und statt Grandin mit stummer Geste ins Totenreich zu führen, rettet Cliff ihm das Leben, als er im Meer von der Unterströmung erfasst wird und zu ertrinken droht. Während also Aschenbachs Verliebtheit in Tadzios kränkliche Erscheinung morbide und dekadente Züge trägt, bedrückt Grandin vielmehr die Verschwendung der blühenden Jugend:
„Als er gegangen war, war John Grandin stärker denn je überzeugt, dass Cliff Hauman das Zeichen des Todes trug. Realistisch betrachtet war sein Tod nicht von Interesse und hatte keine besondere Bedeutung. Der Tod an sich war nicht wichtig, er war nicht einmal dramatisch. Wichtig war – auch dramatisch und sogar leidenschaftlich – allein die Intensität seines jetzigen Lebens, seine Vitalität, sein Charme und seine Freude am Leben, sowie die erfrischende Wirkung, die er auf jeden ausübte, mit dem er in Berührung kam. Haumans bevorstehender Tod war ohne jede Tragweite. Grandin fühlte sich nur deshalb so betroffen, weil Cliff Hauman jetzt so überaus lebendig war; das machte sein Schicksal zum Paradebeispiel für die derzeit grassierende, schamlose und extravagante Verschwendung.“
Jacksons Variationen über den „Urtext“ verdeutlichen die von Thomas Mann getroffenen Formentscheidungen, indem sie vor Augen führen, dass sich fast alles auch ganz anders erzählen ließe; zugleich schafft die durch vielerlei kunstvolle Zitate erzeugte Präsenz von „Der Tod in Venedig“ einen Kontext, der Jacksons Roman gewissermaßen mit Bedeutungen auflädt.
Während Thomas Mann die Gegenüberstellung von sinnlichen und geistigen Effekten vor allem in ästhetischer Hinsicht erörtert, sieht Jackson hier ein moralisches Problem ersten Ranges. Als Grandin merkt, in welche Richtung sich seine Gefühle bewegen, stellt er sich die Frage:
„So erschreckend die Enthüllung auch war, Cliff war eine Erfahrung gewesen, die ihm Einblick in sein Unbewusstes verschafft und sein Wesen bereichert oder doch ausgeleuchtet hatte. Nun gut, auch wenn er sich weigerte, diesem neuen Impuls zu folgen, würde er versuchen, diese Erfahrung anzunehmen – denn was hat uns das Leben anderes zu bieten als Erfahrung?“
Wer ist der „Tiger“, dessen Augen bedrohlich im Bambusdickicht funkeln? Während Thomas Mann die Ursache der Gefahr in einer fremdartigen Ferne verortet, sieht Jackson sie in den Tiefen des Unbewussten. Einziges Bollwerk des Geistes gegen sinnliche Impulse ist die Seelenstärke. Anhand der Protagonisten seiner ersten Romane zeigt Jackson mit psychologischer Finesse, wie schwach dieses Bollwerk (geworden) ist – der Alkoholsucht wie der erotischen Verführung haben sie nichts entgegenzusetzen. Wer in Versuchung geführt wird und wer nicht, ist lediglich eine Frage des Zufalls: Der harmlose, glücklich verheiratete Bill Howard ist eben ein „Glückspilz.“

# Roger Austen, Playing the Game. The Homosexual Novel in America, 1977, S. 103-106
# James Levin: The Gay Novel in America, 1991, S. 66-68
# Charles Jackson, Die Niederlage. Aus dem amerikanischen Englisch von Joachim Bartholomae, Hamburg 2016
# Thomas Mann, Der Tod in Venedig, Frankfurt 1912

2 Gedanken zu „Charles Jackson Roman „Die Niederlage“ und die Rezeption in Amerika

  1. Heute lese ich den Jackson-Artikel in „Lost Gay Novels“ von Anthony Slide, 2003 im Wissenschaftsverlag Harrington Park erschienen. Ich Slide hat die Bücher, die er hier vor dem Vergessen bewahren will, offenbar nicht gelesen: schon auf der ersten Seite des 5,5-seitigen Beitrags zu Jackson sind vier Fehler: Dass Don Birnam, der Held von „Verlorenes Wochenende“, schwul sei, belegt er fälschlich mit dem Zusammentreffen mit einem schwulen Krankenpfleger – dass Birnam sich erinnert, wegen seiner Schwärmerei für einen älteren Schüler vom College geflogen zu sein, hat er wohl überlesen. Weiterhin verwechselt Slide John Grandin, den Held von „Die Niederlage“, mit Don Birnam, wenn er schreibt, Birnam sei Wissenschaftler und habe zwei Söhne. Grandins Frau besucht ihre Eltern angeblich in Boston (korrekt: Mayne), es handelt sich angeblich um „a few weeks of separation“ (korrekt: nur eine Woche). Traurig.

  2. Byłem na tej pana stronie- w którym miejscu są te obszerne zarzuty? Strona nie jest duża więc może są one ukryte np. w odnośniku do kompromitacji Zbigniewa Herberta albo kompromitacji Adama Mickiewicza? Trochę pan tego nazbierał: jest i Grecja, Monty Python. Faktycznie krasnolud z podziemia. Ale taki z pasją nie z sukcesem.

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