Peter Rehbergs Roman „Fag Love“ ist im Frühjahr 2005 bei Männerschwarm erschienen, insofern ist es schon ein „altes“ Buch, das aus der zeitlichen Distanz neu betrachtet werden kann. Es handelt sich um einen hemmungslos subjektiven Text, gewissermaßen einen lyrischen Roman, in dieser Hinsicht mit Hervé Guiberts späten Büchern zu vergleichen, nur um eine Richtung anzugeben. Heute, knapp sieben Jahre später, ist die Bedeutung dieses Romans womöglich noch gewachsen, denn literarisch anspruchsvolle Werke schwuler Autoren sind in letzter Zeit nur wenige erschienen.
Äußerer Anlass, sich diesen Roman noch einmal vorzunehmen, ist eine Korrespondenz, die ich aus Anlass des Kleist-Todestages mit Stefan Broniowski führte. Dort habe ich probeweise die These aufgestellt:
„1809 – Kleists Außenseiter bekennen sich aus unbeirrtem Rechtsempfinden zu ihrem Außenseitertum, können daran aber nichts ändern.
1917 – Kafkas Außenseiter empfindet seine Situation als in jeder Hinsicht unerträglich, er kann so nicht leben, kann seine Lage jedoch unter großen persönlichen Opfern verändern: Der Affe lernt es, Mensch zu sein.
Was ist dann 2011? – Peter Rehbergs Außenseiter sehen sich als den Heterosexuellen kulturell und sozial weit überlegen. Diese Selbsteinschätzung wird von den heterosexuellen Mitmenschen nicht geteilt, sie ist diesen Menschen nicht einmal bewusst: eine Kommunikation zwischen den Lebensformen findet nicht statt.“
Da stellte sich heraus, dass Peter Rehberg, der in den letzten zehn Jahren drei Bücher veröffentlicht hat, unter belesenen Schwulen tatsächlich noch kein Name ist, „den man kennt“. Mein Korrespondent fasste das als Bildungslücke auf und hat das Buch gelesen. Um es vorwegzunehmen: Es hat ihm nicht gefallen. Seine Einschätzung folgt als erster Kommentar auf diesen Eintrag.
Zur Einstimmung möchte ich zwei der zahlreichen, überwiegend ausgesprochen positiven Besprechungen des Buches zitieren. Damals wurden literarische Texte noch in der schwulen Monatspresse rezensiert, was heute leider zu einer Seltenheit geworden ist.
Nr. 1, Christoph Dompke im Hamburger „Hinnerk“:
… Felix lebt in New York, verliebt sich in Berlin, doch als er seines Freundes wegen dorthin zurückkehrt, geht die Beziehung in die Brüche. In Chicago geht das Leben weiter. Diesen plötzlichen Umschwüngen vom Glück in die Traurigkeit, von gemeinsamen in einsame Stunden, gibt Rehbergs manchmal bewusst rauer, unebener Sprachfluss eine starke Unmittelbarkeit, vergleichbar den intensiven Handkamerabildern der Dogma-Filme. Die Reise ins Innere der Liebe, der Lust und des Lebens zwischen Sex, Beziehung und moderner Lebensgestaltung wird kontrapunktisch mit diversen Popsongs durchsetzt: Ein Lied kann eine Brücke sein. Für alle Leser, die wie der Rezensent ihre schwule Sozialisation mittels Operette und Anneliese Rothenberger erlebt haben, gibt der Appendix weitere Auskünfte zu den zitierten Liedern. Doch auch, wer von Popmusik überhaupt keine Ahnung hat, kann „Fag Love“ mit Vergnügen lesen, denn – das ist das Wunder dieses Romans – er „kann alle Farben spielen“, er „kann vieles sein“ (Marianne Rosenberg): Paraphrase der Kitsch- und Camp-Diskussion, kulturgeschichtlicher Beitrag über mentale Unterschiede der US-amerikanischen und deutschen Schwulenszenen und Bildungsroman der postmodernen Popkultur. Und wer sich für all dies gar nicht interessiert, für den bleibt es ein intensiver, anrührender Lebens- und Liebesroman, mit furiosem Schwung geschrieben, das Ohr immer am Beat der Zeit. …
Nr. 2, Siegfried Straßner in der „Nürnberger Schwulenpost“ (sel. Angedenkens):
… Nach „Play“ im Jahr 2002 ist „Fag Love“ Peter Rehbergs zweites Buch im Hamburger Männerschwarm Verlag. Und wieder ist es die außergewöhnliche Intensität seines im gegenwärtigen Moment verknappten Schreibstils, der den Leser bei der Lektüre in Windeseile packt. Logbuchartig teilt der Text das augenblicklich Geschehende, Gedachte, Erlittene mit, in Sätzen und Worten des schwulen Alltags, oft unvollständig, dahingeschrieben wie Unterhaltung zwischen Frühstückstisch und abendlichem Tresen. Doch gerade in diesem scheinbar Unprätentiösen der Sprache gelingt Rehberg, Jahrgang 1966, ein intensiver Einblick in alle Eigentümlichkeiten des Lebensgefühls einer ganzen schwulen Generation diesseits und jenseits des Atlantiks. …
Nun erhält Stefan Broniowski das Wort, danach werde dann ich auf einige seiner Argumente eingehen.
Dass „Fag Love“ von Peter Rehberg als „Roman“ bezeichnet wird, wäre eine Täuschung, nähme irgendein Leser diese Bezeichnung ernst. Aber was bedeutet ein solches Etikett denn heutzutage schon? Mag sein, dass alles, was kein Comic, Bildband oder Sachbuch (und keine „Erzählungen“) ist, als Roman firmieren muss, damit das Publikum ein Buch überhaupt als „Literatur“ einordnen kann. Und diese Bezeichnung hält ja auch einiges aus, ist traditionell für allerhand Formen offen. Aber hier liegt der Fall doch etwas anders. „Fag Love“ ist nämlich schlicht deshalb kein Roman, weil es gar keiner sein soll. Wie die Figur Sven darin ganz richtig sagt: „Die Geschichte von Felix und Anton, von Felix und Jack, nichts als Anmerkungen, Fußnoten eigentlich. Weil ihre Geschichten in Wirklichkeit schon zuvor von der Popmusik erzählt worden sind.“ Das stimmt, meine ich, und bezeichnet auch bemerkenswert treffend die Schwierigkeit, die ich mit „Fag Love“ habe: Dieses Buch ist nicht für mich geschrieben, ich gehöre nicht zur Zielgruppe, da ich nichts von Popmusik verstehe und auf diesem Ohr völlig taub bin. Ob Madonna oder Marianne und Michael, mir ist das alles gleich, und ich halte, elitärer Schnösel, der ich bin, all diese „populäre“ Musik, ohne übrigens ein Gefühl der Entbehrung zu haben, nicht im mindesten für etwas, das mich etwas angeht. Jeder hat eben so seine Beschränkungen.
Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich „Fag Love“ auch gar nicht zur Hand genommen hätte, wenn in einer Diskussion über literarische Außenseiterperspektiven nicht der Name Peter Rehbergs gefallen wäre. Ich musste passen und gestehen, dass ich von diesem Autor noch nie gehört und also nichts von gelesen hatte. Verdammt gute Literatur sei das, wurde mir beschieden. Nanu, das gibt’s doch nicht, dachte ich mir, wenn das so ist, wenn das also ein relevanter Autor ist, auf dessen Bücher man sich beziehen kann, als müsse man sie als gebildeter, literaturkundiger Schwuler gelesen haben, dann kann dir das doch nicht so völlig entgangen sein. Das gibt’s aber doch und hat auch seine Richtigkeit. Das konnte ich nicht wissen, bevor ich „Fag Love“ las, aber ich muss es in meiner instinktsicheren Ignoranz geahnt haben, und jetzt weiß ich es. Es ist einfach so, um es nochmals zu sagen: Rehberg hat nicht für mich geschrieben, ich bin für „Fag Love“ der ganz und gar falsche Leser.
Das ist ja auch völlig in Ordnung so und kann dem Autor und seinem Text nicht zum Vorwurf gemacht werden. Wäre ja noch schöner, wenn einer für alle und jeden schreiben müsste! Aber andererseits, da ich „Fag Love“ jetzt nun schon einmal gelesen und allerhand Eindrücke davon getragen habe, will ich, wie ich es gewohnt bin, das Erlebte auch reflektieren; und das kann ich, zumindest zunächst, nur, indem ich Kriterien anlege, die ich aus anderen, ganz anderen Leseerfahrungen gewonnen habe.
Wenn „Fag Love“ ein Roman wäre, wie sollte man dann das nennen, was — ach, wen erwähn ich jetzt?, warum nicht gleich: — Thomas Mann, Marcel Proust, Hans Henny Jahnn, Jean Genet, James Baldwin oder Detlev Meyer geschrieben hatten? Die Hauptfigur in „Fag Love“ erwähnt einmal Hubert Fichte, und siehe da, an den hatte ich beim Lesen auch schon denken müssen, aber bloß wegen der mich bei Fichte schon und erst recht bei Rehberg nervenden Manie, nach ein paar Wörtern immer gleich eine neue Zeile beginnen zu müssen, nach ein paar Zeilen oder auch nur einer einzigen einen neuen Absatz. („Fag Love“ hat etwas über 200 Seiten, setzte man den Text aber in herkömmlicher Manier, käme man höchstens auf ein Drittel des jetzigen Seitenumfanges.)
Wie kindisch, nicht wahr, sich über Platzverschwendung Gedanken zu machen, Papier ist doch geduldig, in Gedichtbänden ist noch mehr weißer Raum, das stört doch auch niemanden. Aber darum geht’s gar nicht. Es geht um die Frage, was eine solche Setzweise für eine Funktion hat. Ich behaupte, es geht um Pathetik, um Großtuerei, um die Geste: Schaut her, wie wichtig ist, was ich schreibe, wie großartig, wie bedeutungsvoll. Das wäre ja sogar in Ordnung, wenn das Geschriebene dem gerecht würde. Wird es aber nicht.
Der wesentliche Unterschied zwischen Fichte und Rehberg besteht meiner Meinung nach darin, dass Fichte sich für die Wirklichkeit interessiert, Rehberg nicht. Fichte will schreibend etwas herausbekommen und darstellen, was ist. Rehberg hat nichts zu erzählen (die popsongs haben ja schon alles gesagt) und reproduziert nur Erwartbares. Dabei geht es nicht um die Stoffe. Es geht fast nie um die Stoffe. Es geht um die Art und weis, wie Material in Form gebracht wird.
Man hat mir gesagt, „Fag Love“ sei ganz aus einem schwulen Blickwinkel geschrieben. Selbst wenn dem so wäre, und ich habe da meine Zweifel, worauf richtete sich denn ein solcher schwuler Blick? Doch offensichtlich auf nichts außer vielleicht sich selbst. Der Text ist völlig weltlos.
Wenn man von „Fag Love“ wenigstens sagen könnte, es sei oberflächlich! Das ist es aber nicht. Es ist schlicht hohl. Es ist ohne Substanz, was, wie ich annehme, daran liegt, dass ja mit den im Text zitierten songs alles schon gesagt sein soll. Die Literatur hat also, wenn das stimmt, bereits stattgefunden und übrig bleibt nur das Wiederabspielen musikalischer Konfektionsware. Es wäre aber ein Missverständnis, anzunehmen, diese seien dann eben der „Ausdruck“ eines Lebensgefühls. Zwar mag es zutreffen, dass die Musik den Figuren gefällt und ihren Bedürfnissen nach akustischer Untermalung ihrer Stimmungen entspricht. Aber etwas, was man nicht selbst macht, kann einen nicht in der eigenen Unverwechselbarkeit und Unvertretbarkeit ausdrücken. Was invariabel vorgefertigt zur Verfügung steht, massenhaft, ohne jeden Bezug zu etwas Persönlichem, artikuliert nicht Gefühle, Erfahrungen, Einsichten, sondern dekoriert anonyme Situationen.
Die Figuren dieses „Romans“ haben folgerichtig keine unverwechselbaren Charaktere, nur geläufige Funktionen: der beste Freund, die beste Freundin, der schöne Mann, der hässliche Mann, der seltsame Mann usw. Keine Figur ist wirklich individuell, keine hat ein bestimmte Aussehen, einen relevanten Beruf, eine Geschichte.
So schemenhaft die Figuren sind, so schablonenhaft ist auch ihr Reden. Die Hauptfigur etwa, der Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive alles (außer dem Anhang) formuliert ist, äußert immer wieder ganz simple Generalisierungen: Die Homos, die Heteros, die Amerikaner, die Deutschen usw. Nichts davon wird differenziert oder belegt. Wenn es da um Ironie gehen sollte, habe ich sie nicht erkennen können.
Viel Aufwand wird in „Fag Love“ mit Ortsnamen getrieben: New York, Berlin, Chicago, Los Angeles. Aber tatsächlich kommen ausschließlich diese Ortsnamen, nicht die damit verbundenen Städte selbst vor, denn diese werden nie beschrieben, ihre Eigenart wird nie dargestellt, nur schablonenhaft benannt. Was aber heißt es, dass New York „sexy“ und eine „schwule Stadt“, gar die schwulste der Welt ist? Was sind die Merkmale davon? Wie sieht das aus? Könnte man es auch anders sehen? Was heißt es, dass Berlin „besser, besser und besser“ wird? Im Vergleich wozu? Im Bezug worauf? Die Nachtlokale, die besucht werden (und viele andere Lokalitäten außer ihnen und ein paar Privatwohnungen gibt es im Text nicht), werden mit ihren Namen erwähnt, aber ihre Eigenart, ihre Atmosphäre wird nicht beschrieben. Alles ist austauschbar, ohne das wenigstens diese Austauschbarkeit zum Thema würde.
Wohlgemerkt, es geht mir nicht darum, dass es hinsichtlich der Orte (Städte und Bars) an Lokalkolorit fehlt, sondern darum, dass ich den Sinn nicht sehe, warum überhaupt namentlich genannte Orte vorkommen, wo doch das, was diese Ort ausmacht, nicht gezeigt wird. Der Verdacht drängt sich mir auf, dass die Ortsnamen Chiffren eines Codes sind, dessen Kenntnis sich mir entzieht.
Wenn also „Fag Love“ wirklich einen „schwulen Blick“ auf die Welt beschreibt oder verkörpert, dann richtet sich dieser „schwule Blick“, so meine ich, allenfalls auf sich selbst — ohne sich freilich erkennbar zu durchschauen. Eine Wirklichkeit außerhalb einer gewissen Gestimmtheit kommt in „Fag Love“ nicht vor. In der aus lauter Schablonen und Klischees bestehenden Hohlwelt dieses „Romans“ gibt es keine Gesellschaft, keine Politik, keine Wirtschaft, keine Künste und (fast) keine Literatur. Selbst Musik kommt in Wahrheit gar nicht vor. Von den Popsongs werden zwar deren Texte zitiert, nie wird eindrücklich beschrieben, wie die Musik dazu sich anhört.
Nun gut, Literatur muss nicht beschreiben. Sie muss nicht einmal erzählen. (Und die story von „Fag Love“ ist ja auch eher schlicht: boy meets boy, boy loses boy, boy meets other boy, boy dies.) Wenn es aber weder ums Beschreiben noch ums Erzählen geht, was will Literatur dann?
Ich sage nicht, „Fag Love“ sei schlecht gemacht. Gar nicht. Peter Rehberg setzt seine Sätze sehr bewusst, da gibt es nichts Undurchdachtes, nichts Nachlässiges, der Kunstwille ist stets spürbar — aber wozu all der Aufwand? (Wozu beispielsweise die Konstruktion, dass der Ich-Erzähler, in graphisch abgehobenen Einschüben, aus dem Sarg heraus spricht? Ein interessanter Einfall, aber was bringt er?) Was will der Text von seinen Lesern, was fordert er ihnen ab, wozu fordert er sie heraus?
Wahrscheinlich ist es müßig, an ein Buch, dass selbst nicht tiefschürfend sein will, solche Fragen zu stellen. Wahrscheinlich beschäftige ich mich schon jetzt mehr mit „Fag Love“, als der Text lohnt. Aber ich habe bemerkt, ich bin nicht der einzige, der diesen „Roman“ nicht auf die leichte Schulter nimmt.
Ein Werbetext sagt: „’Fag Love’ ist vielleicht der erste postmoderne Roman, der mit seiner verhalten experimentellen Sprache eine schwule Liebesgeschichte erzählt, eine Geschichte, die mit ihren Brüchen und Sehnsüchten eine Zustandsbeschreibung schwulen Lebensgefühls zustande bringt, die man anderswo lange suchen muss.“
Da werde ich also wohl ein anderes Buch gelesen haben! In dem „Fag Love“ jedenfalls, das mir vorliegt, ist weder irgendetwas experimentell (nicht einmal verhalten), sondern völlig konventionell und allenfalls ab und zu sprachlich und orthographisch manieriert, noch findet im Mindesten irgendeine eine „Zustandsbeschreibung schwulen Lebensgefühls“ statt. Dieses Lebensgefühl — sollen es übrigen ausnahmslos alle Schwulen haben oder handelt es sich nur um ein Lebensgefühl unter mehreren zulässigen? — wäre denn das einer weltlosen, an Menschen und ihren Verhältnissen desinteressierten, nur um sich selbst und ihre kontingenten Befindlichkeiten kreisenden und in jeder Hinsicht rückhaltlosen Konsumbereitschaft. Ob das mit „postmodern“ gemeint ist? (Einer Vokabel. mit der man bekanntlich alles und nichts bezeichnen kann.)
Noch hymnischer kommt ein anderer Werbetext daher: „’Fag Love’ ist der stilistisch präzise gestaltete Ausdruck eines Lebens, das die postmoderne Popkultur vorbehaltlos bejaht und ihre Versprechungen ernst nimmt. Rehberg beschreibt nicht, sein Text liest sich, als stände Felix mit einem Bier an der Bar und erzählte seine Story. Die Einheit von Sprache und Geschichte erzeugt eine Intensität, die jeden in den Bann zieht, egal, ob man sich mit dem Helden identifiziert oder einem die Sorgen und Nöte dieser Generation bisher nur als plakative Lifestyle-Fragen erschienen sind. Ohne es zu wollen, ist „Fag Love“ damit ein klassischer Bildungsroman geworden, der auf zeitgemäße Art seine eigenen Perspektiven auf die Gegenwart entwickelt.“
Ich gestehe, ich weiß nicht, was stilistische Präzision sein soll. Ein Stil kann nüchtern oder überschwänglich, wortkarg oder bilderreich sein, aber inwiefern können dabei Nüchternheit, Überschwang, Kargheit oder Bilderreichtum „präzise“ sein? Vielleicht ist damit gemeint, dass ein und derselbe Stil durchgehalten wird, also ein stilistische Einheitlichkeit. Und in der Tat, die Prosa von „Fag Love“ scheint mir homogen und glatt. Aber ob das etwas Lobenswertes oder Bedenkliches ist, dafür brauchte es ein Kriterium, das, finde ich, nicht das der Präzision sein kann, sondern das das Verhältnis von Zwecken und Mitteln, von gelungener oder misslungener Gestaltung im Hinblick auf eine nachvollziehbare Darstellungsabsicht zu betreffen hätte. Was will der Text vom Leser, was bietet er ihm an?
„Rehberg beschreibt nicht …“ Stimmt. Aber ich habe auch noch nie in den Jahrzehnte, die ich selber an Tresen stand und Bier trank, jemanden so reden hören (oder selbst so geredet) wie die Figur Felix. Der Stil macht, wiewohl unkompliziert und leichtgewichtig, einen alles andere als spontanen und authentischen Eindruck, da redet niemand frei von der Leber weg, alles ist hochartifiziell, kontrolliert, statisch. Von wegen „in den Bann ziehende Intensität“! Eher seichtes Geplätscher. Von wegen Sorgen und Nöte oder auch nur Fragen (und wäre es solche des lifestyles)! Eher ein Mangel an Problemen und Konflikten, ein Dahintreiben ohne Ziel und Verstand.
Wenn „Fag Love“ also ein Bildungsroman ist, dann ist Zuckerwatte ein nährstoffreiches Grundnahrungsmittel. Dann ist Fahrstuhlmusik ein Höhepunkt abendländischen Kunstschaffens. Und dann ist im eigenen, reichlich dünnen Saft zu schmoren eine „Perspektive auf die Gegenwart“. Eine „vorbehaltlose Bejahung der Popkultur“ lässt sich Peter Rehbergs Text aber wohl tatsächlich zuschreiben. Es gab freilich mal Zeiten, in denen nicht Affirmation gerühmt wurde, sondern Kritik …
Nein, Literatur muss nicht kritisch sein. Sie muss nichts aufzeigen, nichts verändern wollen. Sie muss nicht weh tun, nicht überraschen, erschrecken, verblüffen. Sie muss keine Einblicke, Ausblicke, Durchblicke gewähren. Sie muss weder erzählen noch beschreiben. Und sie muss auch nicht, ich sagte es schon, für mich geschrieben sein. Aber wozu ein ein Text, der das alles nicht will, sondern im Grunde lediglich ein booklet zu einem (von anderen vorgegebenen) soundtrack sein möchte, denn dann überhaupt geschrieben, verlegt und gelesen werden soll, das müssen bitte andere mir erklären. Ich weiß es nicht.
Zu Zeiten von Karl Kraus begründete der Polizeichef von Wien seine Abneigung gegen dessen „Fackel“ mit den berühmten Worten: „Mir passt die ganze Linie nicht.“ Stefan „passt“ Peter Rehbergs Buch auf der ganzen Linie nicht, er schreibt, er sei für dieses Buch offenbar der falsche Leser. Vor wenigen Jahren, als wir die Anthologie „Schwule Nachbarn“ zusammenstellten und deutsche Autoren fragten, warum in ihren Büchern solche Nachbarn vollständig fehlten, erwiderte Thomas Hettche, er fühle sich dafür nicht zuständig. Für mich klingen beide Äußerungen merkwürdig, ich glaube weder an falsche Leser noch an falsche Autoren. Die Literatur führt, wohin sie will, solange man sich vor Vorurteilen und Klischees hütet.
„Wer kurze Absätze macht, ist wichtigtuerisch“ ist ein solches Vorurteil. Angenommen, der Zusammenhang besteht wirklich, dann könnte man die Wichtigtuerei doch sicher auch ohne Bezug zum Schriftbild nachweisen, und ein solcher Nachweis wäre sicherlich aufschlussreicher. Wenn ich dieses Schriftbild sehe, dann frage ich mich, was der Autor wohl damit bezweckt, und lese den Text, z.B. ein wirklich extremes Beispiel auf Seite 87:
«Ich habe Anton beim lesbisch-schwulen Straßenfest in Schöneberg getroffen», sagte er als Erstes am Telefon.
Da wär ich jetzt auch gern, dachte ich, aber sagte nichts.
Warum erzählte er mir das?
Ich wollte es gar nicht hören.
«Er sah gut aus.»
«Bisschen blond, weißt du ja.»
«Aber gut.»
Das wollte ich bestimmt nicht hören.
«Berliner Schwucken hysterisch vom Drogennehmen.»
«Weißt du ja, warst ja hier.»
Bisschen Hysterie in der neuen Umgebung wäre mir gerade ganz lieb, dachte ich und dachte an meine Fernsehnacht in der Bar in Boystown.
«Ich habe ihn gefragt, warum er nicht mit dir gesprochen hat.»
Ich finde dich nicht mehr so schön.
Mein Gefühl ist nicht mehr so stark.
Ich kann nicht mehr.
So isses halt.
Du willst doch nicht meinetwegen in Berlin bleiben, oder?
Oder hast du es etwa immer noch nicht kapiert?
Ist das pathetisch und großtuerisch? Ich würde sagen, es ist ein quälendes Telefonat, in das hinein der Erzähler seine Erinnerungen an ein ebenfalls quälendes Gespräch einbaut. Anton, der Freund, der ihn verlässt, macht in diesem Gespräch drei Statements:
Ich finde dich nicht mehr so schön.
Mein Gefühl ist nicht mehr so stark.
Ich kann nicht mehr.
Sehr wahrscheinlich wurden diese drei Sätze nicht einfach so nacheinander gesprochen, und wenn doch, dann hat der Sprecher dazwischen Pausen gemacht und neu angesetzt. Oder der Erzähler hat diese drei Gründe, sich zu trennen, aus einem längeren Gespräch isoliert. Beides sind gute Gründe, den Lesefluss zu unterbrechen.
Darauf folgt eine längere Pause, in der Anton überlegt, ob er dem Ex diese Entscheidung irgendwie leichter erträglich machen kann, aber es fällt ihm nichts ein:
So isses halt.
Während der Erzähler geplättet ist und nichts erwidert, denkt Anton jetzt weiter. Sein Freund ist nach mehreren Jahren, die er in New York verbracht hat, nach Berlin zurückgekommen, wie der Leser inzwischen weiß, hat er sich im Konflikt Anton vs. New York für Anton entschieden. Anton weißt die Verantwortung für die Entscheidung des Erzählers zurück:
Du willst doch nicht meinetwegen in Berlin bleiben, oder?
Stefan bezeichnet Peter Rehbergs Schreibweise als durch und durch konventionell. Das mag er so sehen, solche Urteile sind wohl Geschmackssache. Ich würde sagen, der Text vollbringt das Kunststück, Statements und Gedanken so zu arrangieren, dass sie ohne beschreibende, einordnende Zwischentexte auskommen – „Fag Love“ ist in gewisser Hinsicht wie ein Theaterstück, das auch ohne das Bühnenspektakel jederzeit einen präzisen Eindruck vermittelt. Mir fällt noch der Vergleich zur Molekularküche ein: wer ein saftiges Steak erwartet, wird enttäuscht sein, aber ein Gourmet wird die Qualitäten der gefrosteten Essenzen trotzdem zu schätzen wissen, auch wenn er anderes lieber isst.
Das ist es auch, was wir in der Werbung als „Präzision“ bezeichnen, ein Kriterium, mit dem Stefan nichts anfangen kann, obwohl es genau das leistet, was er verlangt: die Relation von Zweck und Mittel anzugeben. Walter Foelske, ein Autor, den ich zutiefst verehre, treibt seine Leser mit einer geradezu haarsträubenden Ungenauigkeit in den Wahnsinn, indem er formuliert, zweifelt, neu formuliert, oder seine Figuren unentwegt Sätze schreiben und wieder durchstreichen lässt. Beide Autoren verwenden ganz unterschiedliche Mittel für ihre Zwecke, das Mittel, das Peter Rehberg bevorzugt, ist das der Präzision. Ich würde sagen, das oben stehende Beispiel kann auch das recht gut verdeutlichen.
Peter Rehberg hat sich einen literarischen Scherz erlaubt, indem er „Fag Love“ als reine Ansammlung von Fußnoten und Anmerkungen zur Popmusik herabwürdigt. Heinrich Heine schreibt zum Thema „unglückliche Liebe“ im „Buch der Lieder“ die Verse: Es ist eine alte Geschichte / Doch bleibt sie immer neu; / Und wem sie just passieret, / Dem bricht das Herz entzwei. Ich würde sagen, Heine hätte keine Probleme damit gehabt, seine Lieder als Fußnoten zu anderen, älteren Liedern aufzufassen. Wer in der Lage ist, mit solchen Anspielungen zu arbeiten, kann seinen eigenen Formgebungen damit zugleich einen Kontext geben, der ihre Individualität nur umso mehr hervorhebt.
Bliebe noch der Bausch-und-Bogen-Vorwurf, der Roman sei hohl, ohne Substanz, ohne Welt. Mit einer dieser Formulierungen kommt Stefan der Sache dann tatsächlich nahe: Der schwule Blick, den „Fag Love“ auf die Welt wirft, richtet sich nur auf den Erzähler selbst, ohne ihn erkennbar zu durchschauen. Diesem Satz kann ich nur zustimmen, aber der trifft auf viele große Meisterwerke der Weltliteratur zu. Zu „durchschauen“ ist schließlich die Aufgabe des Lesers, und von Werken der Literatur und Kunst erwarte ich, dass sie mir Sichtweisen präsentieren, die mir zu diesem Zweck das Material liefern. Wenn der Dichter damit anfängt, die Welt, sich selbst oder was auch immer zu durchschauen, wird es meistens ziemlich peinlich, dann sind wir beim Agitprop.
Was vergessen?
Molekularliteratur oder Agitprop, was für eine Alternative! So sind denn also „Madame Bovary“, der „Ulysses“, der „Zauberberg“ und nicht zuletzt die „Recherche“ bloß „ziemlich peinlich“? Oder welche „großen Meisterwerk der Literatur“ wären heranzuziehen, um die absonderliche Behauptung zu stützen, es gebe solche unter ihnen, die lediglich mit dem weltlosen Innenleben der Hauptfigur befasst sind? Selbst bei Beckett oder Bernhard findet sich nichts dergleichen. Aber vielleicht habe ich ja in den letzten Jahrzehnten etwas Wichtiges verpasst, besonders beim Fast-Food-Geschreibsel, von dem die Buchhandlungen überquellen …
Wenn es tatsächlich, wie ich hier überraschend erfahre, weder falsche Leser gibt noch falsche Texte (falsche Autoren, lieber Joachim, gibt es sehr wohl, siehe Guttenberg), dann bin ich zwar der richtige Leser am richtigen Text, mache aber dennoch etwas Entscheidendes falsch. Anders ist es ja auch nicht zu erklären, dass ich von der „Intensität“, die angeblich „jeden in ihren Bann zieht“, nichts bemerkt habe und völlig ungebannt geblieben bin. Wieso sonst schmecke ich bloß langweilige Zucherwatte, wo es doch aufregende Molekularküche serviert wurde?
Zwar war ich bisher der Meinung, ich sei unvoreingenommen und ohne Erwartungen, wenn auch nicht ohne Erfahrungen, an „Fag Love“ herangegangen, einfach, weil ich wissen wollte, inwiefern das „verdammt gute Literatur“ (Bartholomae über Rehberg) ist. Aber nun wurde ich ja meiner ziemlich schlichten und altbackenen Vorurteile überführt. Bloß dass ich diese so gar nicht als die meinigen wiederkenne …
Mein „Vorurteil“ lautet nämlich nicht, wer kurze Absätze mache, sei wichtigtuerisch. Sondern: Ich hätte gern, dass Texte Substanz haben. Das „Kunststück, Statements und Gedanken so zu arrangieren, dass sie ohne beschreibende, einordnende Zwischentexte auskommen“ kann ich als solches, nämlich als Kunststück, nicht erkennen oder würdigen, dafür bin ich wohl zu blöd. Meine übertreibende Gegenthese: Gelungene Prosa besteht überhaupt nur aus Zwischentexten.
Die müssen übrigens nicht unbedingt dastehen. Sie können sich auch zwischen den Zeilen ereignen. Aber bei „Fag Love“ ist dafür kein Platz, weil den schon die stoffliche Leere beansprucht. Der Text hat nichts zu sagen. Das vermittelt er allerdings tatsächlich makellos. Wenn diese Schreibweise aber ein Experiment sein soll, halte ich es für gescheitert oder überflüssig, was — denn Experimente macht man ja wohl, um etwas herauszubekommen — dasselbe ist.
Ein weiteres Vorurteil, zu dem ich mich rundheraus bekenne: Wenn Autor das Quälende eines „quälenden Telefonats“ nicht sprachlich, sondern über das Satzbild zu vermitteln versucht, dann handelt es sich nicht um Literatur, sondern um Graphik. Oder meinetwegen um einen Grenzgang zwischen bildender Kunst und Literatur. Dagegen ist für sich genommen nichts einzuwenden, Mallarmé, Apollinaire, Morgenstern, Gomringer usw. usf. haben derlei einst gemacht. Aber „verdammt gute Literatur“ würde ich das bei allem Respekt nicht nennen.
Auch darin bin ich voreingenommen: Das Rearrangement von Banalitäten muss keineswegs selbst wieder banal sein. Bei „Fag Love“ freilich scheint mir das der Fall. Die Form, in der Rehberg das Triviale präsentiert, gewinnt diesem nichts ab, fügt ihm nichts hinzu, im Gegenteil, alles, was an der Begebenheit und Gegebenheit des Vorkommenden (um nicht „des Erzählten“ zu sagen) die Sinne oder den Intellekt ansprechen könnte, wird abgezogen. Wenn das Kunst ist, ziehe ich tatsächlich Agitprop vor.
Nein, im Ernst. ich lasse mich doch hier nicht zum Lukács machen. Auch habe ich mir noch nie gewünscht, Dichter sollten die Welt durchschauen. (Zumal ich, um ein Missverständnis richtigzustellen, den berüchtigten „schwulen Blick“ dem Text, genauer. der Figur Felix, nicht also dem Autor Peter Rehberg zugeordnet habe.) Brrr, schlimme Vorstellung!
Meine Frage ist aber nach wie vor: Wozu wird ein Buch wie „Fag Love“ geschrieben? Was bietet es einem Leser, das der nicht schon vorher hatte? Mich hat es nur — tatsächlich „auf ganzer Linie“ — gelangweilt und unbeeindruckt gelassen. Umso mehr erstaunt mich die Begeisterung, die das Buch anscheinend bei manchen auslöst. Ich verstehe sie immer noch nicht. Tolle Satzbildakrobatik genügt mir nicht als Argument. Ich möchte immer noch ganz naiv wissen: Wozu der Aufwand?
Oder anders gesagt, die Formulierung Joachims aufgreifend: Wohin will mich „Fag Love“ führen? (Ich fürchte, ich war schon dort, und es hat mir nicht gefallen.)
Da außer Bartholomae und Broniowski niemand Interesse an einer Debatte zu ahben scheint, erlaube ich mir, zu posten, was mir abschließend noch einfällt:
Mir scheint, mein Problem mit Peter Rehbergs „Fag Love“ ist im Grunde keines der Literaturkritik. Denn was diese betrifft, so bin ich ja sogar zuzugeben, dass bei diesem Text Form und Inhalt perfekt zusammenpassen. Nur finde ich eben beides belanglos.
Mein eigentliches Problem ist, wie ich vermute: Ich kenne solche Leute wie (die Romanfiguren) Felix, Sven, Anton, Jack usw. nicht. Das heißt, ich kenne sie sehr wohl oder könnte sie zumindest kennen, aber ich möchte sie nicht kennen und habe es, wenn ich ihnen im wirklichen Leben begegnete, stets vorgezogen, nichts mit ihnen zu tun zu haben. Das deshalb, weil wir sowieso nichts miteinander gemein haben und weder ich für sie noch sie für mich in irgendeiner Hinsicht interessant sind.
Man mag es für überheblich halten, dass ich mit Leuten wie Felix, Sven, Anton, Jack usw. nichts zu tun haben möchte. Es könnte den Anschein haben, als hielte ich mich für besser als bestimmte Leute. Aber selbst wenn dem so wäre, geht es darum nicht. Tatsächlich handelt es sich vor allem um Selbstverteidigung eines Marginalisierten. Solche Leute, behaupte ich, sind für mich eine ernstzunehmende Bedrohung, denn sie sind in der Minderheit die Mehrheit. Sie beanspruchen und erhalten den Raum und die Aufmerksamkeit, den und die ich gern anders vergeben sähe. Sie bilden die konformistische Masse, die verhindert, dass die Schwulen eine revolutionäre Avantgarde sind.
Wie bitte? Meine ich das ernst? Irgendwie schon. Ich bin ja oldschool (sagt man noch so?). Mein Fehler: Ich werde darum wohl nie verstehen, was anderen anscheinend das Allerselbstverständlichste ist, dass man nämlich zugleich abweichend sein und angepasst sein wollen kann. Ich für meinen Teil will nicht, dass die Verhältnisse so sind, wie sie sind, und will mich nicht, zumindest nicht kommentarlos (um nicht zu sagen: nicht ohne Widerstand) in sie einfügen oder einfügen lassen. Ein „schwuler Blick“, mit dem auch nichts anderes und nichts anders zu sehen ist als mit einem nichtschwulen, interessiert mich darum nicht.
Andere sagen gern, sie hätten sich nicht ausgesucht, schwul zu sein. Nun denn, darauf sage ich, ich habe mir meine politischen Überzeugungen auch nicht ausgesucht, sie werden mir von den Verhältnisse aufgedrängt, ich muss schlichtweg dagegen sein. Aber offenbar liegt dem doch noch etwas voraus, nämlich der himmelschreiende Mangel an Bereitschaft, den Übeln dieser Welt zuzustimmen. Ästhetisches und Politisches, Schwulsein und Anarchismus haben für mich immer aufs Engste zusammengehört und sind für mich im Letzten sogar dasselbe. Damit stehe ich, ich weiß es nur zu gut, allein auf weiter Flur. Aber reden wir nicht von mir. Reden wir von Literatur.
Wozu liest man Belletristik? Jeder hat da seine eigenen Gründe. Man möchte, dass Texte einen informieren, unterhalten, beruhigen, aufgeilen, belehren, langweilen, bestätigen, abstoßen, verstören usw. usf. Das heißt, manches davon möchte man (in einer bestimmten Lage oder immer), manches nicht. Was ich je und je möchte, ist durchaus auch Geschmackssache, aber nicht nur. Vorlieben können, wenn sie reflektiert und kritisiert werden, sehr wohl zu objektiven Kriterien führen. Dann kann man mit anderen darüber streiten. Über bloße Geschmäcker soll man das ja nicht.
Mir scheint nun, dass „Fag Love“ ein vermutlich sehr gut gelungenes Buch ist für Leuten wie Felix, Sven, Anton, Jack usw. Die werden sich, vermute ich, darin wiederfinden. Ich jedoch will mich in Büchern nicht wiederfinden. Wenn ich ein literarisches Werk lese, will etwas erfahren, was ich ohne diese Lektüre nicht erfahren hätte. Von Leuten wie Felix, Sven, Anton, Jack usw. zum Beispiel wusste ich schon vorher mehr, als ich je wissen wollte.
Ich werde mich hüten, hier jetzt mit dem Kafka-Zitat anzukommen, ein Buch müsse eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Ich sage bloß: Ich bevorzuge Bücher, die sich zur Wirklichkeit querstellen oder mich, indem sie sich auf herausfordernde Art nicht querstellen, dazu nötigen, mein Querstehen zu überdenken.
„Fag Love“ ist durch und durch konformistisch. Was die Figuren dieses Textes denken, sagen, tun und die Art und Weise, wie dies mitgeteilt wird, steht in keinerlei Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen. Nein, ein Roman muss nicht zwangsläufig von Waldsterben und Welthunger handeln, um erlaubt zu sein. Im Gegenteil. Es dürfen sogar die allerbanalsten, ja scheinbar völlig unpolitische Stoffe sein, die gestaltet werden. Aber um mich nicht zu langweilen und abzustoßen, sollte ein literarischer Text doch wenigstens in irgendeiner Hinsicht ein klitzekleines bisschen wider den Stachel löcken.
„Fag Love“ ist, wenn ich das so sagen darf, ein Groschenheft auf hohem technischen Niveau. Auch von solchen Texten werden ihre Leser wohl sagen, sie seien intensiv und zögen sie in ihren Bann. Und sie werden nicht Unrecht haben, wie auch die Leser von „Fag Love“, die ihr Leseerlebnis so beschreiben, nicht Unrecht haben. Falsch aber ist es, wenn gesagt wird, schlechterdings jeder werde von der Intensität in den Bann gezogen. Mindestens einer wurde das nämlich nicht.
Da hilft es nichts, mir aufzuzeigen, wie gut gemacht der Text ist. Auch Werbespots können verdammt gut gemacht sein, aber dass ich das bemerke, heißt nicht, dass ich das beworbene Produkt auch kaufen will, was ja wohl der Zweck der Werbung sein dürfte. Im Gegenteil, je raffinierter der Werbespot zu etwas ist, das ich für überflüssig oder gar schädlich halte, umso größer ist mein Ärger, Ekel, Widerspruch. Zwar passen in solchen Fällen Form (Raffinesse) und Inhalt (Drecksprodukt) perfekt zusammen, aber ich bin trotzdem dagegen.
Da meiner Wahrnehmung nach Rehbergs Text der Substanz entbehrt, also des relevanten Stoffes, halte ich mich in erster Linie daran, was mir die Form, in der das Banale präsentiert wird, zu kommunizieren scheint. Und da finde ich die Werbetextformel von der „vorbehaltlosen Bejahung der Popkultur“ zutreffend, sie bringt für mich das, was mir in jeder Hinsicht (also ästhetisch, emotional, intellektuell) an diesem Buch zuwider ist, auf den Punkt. Die Art und Weise, in der Rehbergs Text geschrieben ist, ist ein ständiger Appell zur unkritischen Hinnahme, zur Geistlosigkeit, zu dem, was man früher mal „falsches Bewusstsein“ genannt hat. Mich spricht das nicht an. Der Aufruf verfehlt mich.
„Fag Love“ verfügt, nehme ich als Unberufener einmal an, über die Intensität eines Werbespots, einer Bildzeitungsschlagzeile oder eben eines popsongs. Und ist derlei auch noch so geschickt gemacht, bei mir verpufft der mutmaßlich beabsichtigte Effekt in der Regel trotzdem. Nach wie vor bin ich überzeugt, dass nicht jeder Text für jeden geschrieben ist. Nicht Literatur als solche „führt, wohin sie will“, sofern man für sie offen ist, nur gute Literatur schafft das. Weniger gute Literatur erzeugt — bei mir jedenfalls — bloß Widerwillen gegenüber ihren Verführungsversuchen. Dorthin nämlich, wohin mich meinem Eindruck nach „Fag Love“ führen will, will ich gar nicht. Und wollte ich nie. Ich war schon mal dort (oder zumindest nah dran), und es hat mir ganz und gar nicht gefallen.
Stefan äußert hier Meinungen aller Art, den als solchen sehr oft zuzustimmen ist – aber es wird dabei niemals ersichtlich, inwieweit sie sich auf Peter Rehbergs Buch beziehen. „Weltloses Innenleben“ wird nur wenige Menschen interessieren, aber hier wäre erst einmal aufzuzeigen, dass Peter Rehberg über solche wertlosen Phrasen nicht hinauskommt. Eine Behauptung ist leider kein Argument.
Die Wahl des Personals scheint für Stefan besonders wichtig zu sein. Zunächst trumpft er mit dem Satz auf, „Ich kenne solche Leute nicht“ – gemeint sind die Figuren des Romans. Ich muss betrübt zugeben, dass ich die Buddenbrooks, die Karamasofs, nicht einmal die Lebedews der Weltliteratur überhaupt nicht kenne, und die meisten davon sicherlich nicht kennen lernen möchte. Das hat den Wert der Lektüre jedoch nie gemindert.
Stefan legt dann eine verblüffende Bemerkung nach: Von Felix etc. wusste er schon immer mehr, als er wissen wollte. Wohlgemerkt: von Menschen, die er nicht kennt. Hm. Hier liegt evtl. ein neuralgischer Punkt.
Stefan behauptet, „Fag Love“ sei „die Selbstverteidigung eines Marginalisierten“. Da würden wir beide dann tatsächlich übereinstimmen, denn in etwa so hatte ich das Buch vorgestellt – eine Selbstverteidigung allerdings, die keine Auseinandersetzung sucht. Es stellt sich jedoch heraus, dass Stefan sich unter einer solchen Selbstverteidigung etwas ganz anderes vorstellt als ich. Mir fällt dazu sofort der Satz ein: „Immerzu wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert“, aber Stefan sieht in sich verteidigenden Marginalisierten eine konformistische Masse. Insofern gelange ich nur wieder zu der Einschätzung meiner ersten Entgegnung: Ihm passt hier ganz einfach die ganze Linie nicht (auch wenn inzwischen Zweifel darüber aufgetreten sind, auf wen dieser Satz zurückzuführen ist). Bücher über Menschen, über die er mehr weiß, als ihm lieb ist, obwohl er sie nicht kennt, möchte er nun einmal nicht lesen. Ich hätte so gern erfahren, was ihm nicht gefällt, welche Sätze weltlos, dämlich oder banal sind. Darüber kann man streiten. Angesichts dieser großen Thesen muss ich nur sagen: ein Roman ist ein Roman ist ein Roman, wer die Welt retten will, muss als erstes einmal mit dem Lesen aufhören.
In meiner berüchtigten Geschwätzigkeit habe ich wohl Verwirrung gestiftet: Nie wäre es mir eingefallen zu sagen, „Fag Love“ sei die „Selbstverteidigung eine Marginalisierten“! Im Gegenteil, ich habe unterstellt, Figuren wie die Rehbergschen und ihre außerliterarischen Entsprechungen seien in der Mehrheit, und ich, der Randständige, müsse mich ihrer erwehren, indem ich mich weigere, etwas mit ihnen zu tun haben (sie also nicht kennen will), obwohl sie so vorherrschend sind, dass es es unmöglich ist, sie nicht doch (im Übermaß) zu kennen. Dass man meinen Satz (und alles, was aus ihm folgt), anders, nämlich geradewegs entgegengesetzt, verstehen kann, erstaunt mich.
Nun, ganz so, wie Joachim es wendet, ist es ja dann doch nicht. Ich habe nicht einfach unbegründete Behauptungen über „Fag Love“ aufgestellt, sondern das, was ich über den Text behauptet habe, ist immer eng und präzise auf diesen bezogen. Zugegeben, zuweilen machen manche Sätze vielleicht den Eindruck der Pauschalität, und es gibt gewisser Weiterungen sowohl ins Allgemeine wie ins Persönliche. (Etwa an der Stelle, an der ich sagen wollte, meine Weigerung, konformistische Schwule wie Felix usw. zu kennen, sei die Selbstverteidigung eines Marginalisierten; ich hatte es auch gesagt, wie der Kontext zeigen dürfte, wurde aber trotzdem gründlich missverstanden. „Stefan sieht in sich verteidigenden Marginalisierten eine konformistische Masse“ ist schlichtweg Unfug. ICH bin marginalisiert, weil nicht genügend konformistisch, Rehbergs Romanpersonal hingegen ist massenkompatibel, majoritär und hegemonial. Wie kann man das so ins Gegenteil verdehen?)
Allerdings besteht für meine Kritik eine unaufhebbare Schwierigkeit darin, dass man nicht zitieren kann, was nicht da steht. Denn meine Hauptkritikpunkte beziehen sich ja ausdrücklich darauf, dass „Fag Love“ etwas fehlt: „ohne Substanz“, „weltlos“, „an Wirklichkeit desinteressiert“, ferner „unkritisch“. Wenn man mich nun fragt, wo genau das im Text denn fehlt, könnte ich nur antworten: Von der ersten bis zur letzten Seite …
Sehr wohl aber habe ich sehr konkrete Beispiele dafür genannt, woran es fehlt. Ich sagte, keine Figur sei wirklich individuell, keine habe ein bestimmte Aussehen, einen relevanten Beruf, eine Geschichte. Wie soll ich belegen, dass das fehlt? Müsste man mir nicht im Gegenteil nachweisen, dass es entweder nicht fehlt oder dass das Fehlen kein Mangel, sondern vielleicht gar ein Vorzug des Textes ist?
(Man kann übrigens nicht im Ernst diese dimensionslosen Felixe, Svens, Antons usw. mit den komplexen und prägnanten Figuren bei Mann und Dostojewski vergleichen wollen! Wer diese Romane gelesen hat und Menschen, die den Figuren zumindest entfernt ähneln, im Leben nie begegnet ist, macht etwas falsch. Nie ist Dir eine Toni oder ein Christian, ein Smerdjakow oder ein Großinquisitor untergekommen, lieber Joachim? Und nie hättest Du einen Aljoscha oder einen Morten Schwarzkopf kennenlernen wollen? Seltsam. Wie verschieden man sich doch zu Literatur verhalten kann.)
Ferner habe ich von den Orten gesprochen und dabei ausnahmsweise sogar (minimale) Zitate gebracht. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass die Aussage, New York sei „die schwulste Stadt der Welt“ bedeutungslos ist, wenn nicht gesagt oder gezeigt wird, inwiefern New York das ist. Oder man unterstellt, der Autor habe die unkritische Hohlheit, das dumpfe Dahergerede seiner Hauptfigur darstellen wollen. Wenn dem so ist, ist es ihm irgendwie wohl auch gelungen, befriedigt mich in meinem Wissenshunger (Warum redet Felix so über New York?) aber überhaupt nicht.
Hier, in Sachen New York und Berlin, hätte Joachim also einmal die sehnlichst gewünschten „Textstellen“ gehabt, über die er streiten möchte, aber mit keinem Wort ist er auf meine Kritik daran eingegangen.
Meinerseits bin ich auf Joachims ausführlich zitiertes Beispiel des „quälenden Telefonats“ sehr wohl eingegangen. Ich sagte (anscheinend wird hier manches überlesen, darum wiederhole ich mich), dass ich eine graphische Darstellung im Unterschied zu einer sprachlichen nicht für Literatur halte. Mehr gibt es dazu aus meiner sicht nicht zu sagen.
Joachim schreibt, er hätte so gern erfahren, was mir nicht gefällt, welche Sätze weltlos, dämlich oder banal sind. Das habe ich längst gesagt. Alles und jeder. Das Ganze. Was ist daran so schwer zu kapieren?
„Wer die Welt retten will, muss als erstes einmal mit dem Lesen aufhören.“ Blödsinn.
(„Immerfort wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert … Ihr sollt es aber nicht bewundern …. Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders … Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.“)
Ich habe im Alter von 20 Jahren Oscar Wilde’s Dorian Gray gelesen. Der war nicht für mich geschrieben. Dann habe ich auch Bachmann’s Gilgamesch gelesen. Darin habe ich mich nicht wieder gefunden, er war aber auch für mich geschrieben… Das war 1970.
Danke, Peter Thommen, das ist ein wichtiger Unterschied: Ob etwas für eine bestimmte Zielgruppe geschrieben ist, der ich nicht angehöre (und nicht angehören will) oder ob ich mich in etwas wiederfinde oder wiederfinden will. Auf Letzteres lege ich persönlich nicht den geringsten Wert. Als Autor ärgert es mich sogar, wenn Leute mit der Beschwerde ankommen, sie fänden sich in von mir Geschriebenem nicht wieder. Wenn man nur liest, um sich bestätigt zu fühlen (statt herausgefordert, in Frage gestellt, überrascht), wird die bevorzugte Lektüre auch danach sein.
Etwas, das nicht für mich geschrieben ist, kann trotzdem gut gemacht und „literarisch wertvoll“ sein. Ich lese beispielsweise fast nie Kriminalromane, weil mich das Genre langweilt. Ich sage aber deshalb nicht, alle Krimis seien Müll.
Ein Text aber, der es darauf anlegt, dass sich jemand darin wiederfindet, fällt wohl eher in die Rubrik Verständigungstexte, nicht Belletristik im engeren Sinne. Derlei hatte lange Zeit gerade unter Schwulen seine Berechtigung. Heute darf man anderes, Anspruchsvolleres und Kritischeres verlagen, oder?