Duvert und Lindgren und der Sprung in ein besseres Leben

Wer Tony Duverts Roman „Als Jonathan starb“ liest, bekommt auf eine ganz entscheidende Frage keine Antwort: Wann ist Jonathan denn nun gestorben? Durch den Hinweis des Lesers Stefan Broniowski wissen wir nun, dass sich die Antwort darauf vielleicht bei Astrid Lindgren findet, genauer gesagt in ihrem Roman „Die Brüder Löwenherz“. Wir überlassen es anderen, herauszufinden, ob Duvert diesen Roman gekannt hat oder hätte kennen können, und präsentieren ganz einfach nur die Fakten. Sollte keine Kausalität vorliegen, so gibt es immerhin eine verblüffende Koinzidenz.

Astrid Lindgren lässt in ihrem 1973 im Original erschienenen Roman den jüngeren von zwei Büdern, Karl oder Krümel, von seinem heldenhaften Bruder Jonathan erzählen. Krümel selbst war ursprünglich totkrank, und sein drei Jahre älterer Bruder tröstete ihn mit einem Leben nach dem Tod im schönen Land Nangijala, in dem er ganz gesund sein wird. Als das Haus, in dem Karl und Jonathan mit ihrer Mutter leben, aus ungeklärtem Grund niederbrennt, rettet Jonathan seinen kleinen Bruder, indem er mit Karl auf dem Rücken aus dem Fenster springt. Karl überlebt, Jonathan ist tot. Wenig später stirbt auch Karl, und die Brüder sind in Nangijala wieder vereint. Allerdings erweist sich dieses ferne Land hinter den Sternen nicht als so friedvoll wie gedacht, Jonathan und Krümel müssen gegen böse Mächte kämpfen, und als er einen bösen Feuerdrachen besiegt, infiziert sich Jonathan und wird gelähmt. Nun muss der kleine Bruder den größeren auf den Rücken nehmen und mit ihm in den Abgrund springen, um durch den erneuten Tod in das dann hoffentlich wirklich glückliche Land Nangilima zu gelangen, wo Jonathan nicht mehr gelähmt sein wird.

Das klingt ein wenig wirr, und der zweifache Sprung legt die Vermutung nahe, dass Astrid Lindgren an die „Owl Creek Bridge“ gedacht haben mag und die Erlebnisse in Nangijala lediglich Jonathans Kampf gegen die Flammen des brennenden Hauses und seinen daraus resultierenden Tod allegorisch darstellen, sodass Jonathans Sprung aus dem Fenster und Karls Sprung in den Abgrund ein und dasselbe Ereignis sind. Trotzdem ist es erstaunlich, dass in einem Kinderbuch ein solcher „infiniter Regress“ der besseren Welten eröffnet wird. Wie auch immer. Hier geht es um einen Sprung bei Lindgren und einen Sprung bei Duvert. Sie lesen sich so:

Dann fiel die Nacht mit ihrer Dunkelheit über Nangijala, über Berge und Fluss und Land. Und ich stand mit Jonathan am Abgrund. Ich trug ihn, er hatte die Arme fest um meinen Hals geschlungen, und ich spürte seinen Atem an meinem Ohr. Ganz ruhig atmete er. Nicht wie ich … Jonathan, mein Bruder, warum bin ich nicht so mutig wie du?
Ich sah die Tiefe unter mir nicht, doch ich wusste, dass sie da war. Und ich brauchte nur einen Schritt ins Dunkle zu tun, dann war alles vorüber. Es würde ganz schnell gehen.
„Krümel Löwenherz“, sagte Jonathan, „hast du Angst?“
„Nein … doch, ich habe Angst! Aber ich tue es trotzdem, Jonathan, ich tue es jetzt … jetzt … Und dann werde ich nie wieder Angst haben. Nie wieder Angst ha…“

„Oh, Nangilima! Ja, Jonathan, ich sehe das Licht! Ich sehe das Licht!“

***

Serge stand plötzlich auf und trat mit dem Fuß gegen die Tasche. Sie rutschte in den Graben. Der Flaschenöffner klirrte gegen die kleine Colaflasche. Das Kind stellte sich an den Rand der Straße. Der Regen war jetzt ganz kalt. Jetzt — die Autos im Auge behalten, bis eines ganz allein und ganz schnell kommt. Dann ganz fest zwischen die beiden Scheinwerfer gucken und sich dagegenwerfen, ganz schnell, in dem Augenblick, wenn ihr Glanz am stärksten ist. Steif und unbeweglich, den Blick leicht verschwommen, ließ Serge mehrere Wagen vorbei, ehe er den sah, den er erwartete.

(Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz, SaltrÃ¥kan 1973, dt. Hamburg 1974, übersetzt von A.-L. Kornitzky
Tony Duvert: Als Jonathan starb, Paris 1978, dt. 2011, übersetzt von J. Bartholomae)

Und bevor Serge springt, geht ihm dies durch den Kopf:

Wenn ein Wagen Serge mitgenommen hätte, wäre er dieses letzte Stück zu Fuß gegangen, vielleicht wäre er dann um elf Uhr oder um Mitternacht bei den zwei etwas abseits vom Dorf gelegenen Häuschen angekommen und hätte Jonathans Gartentor aufgestoßen. Es war nie abgeschlossen. Jonathan schlief schon, Serge käme durch die Küche rein, er würde Licht anmachen, vielleicht könnte er noch eine Maus vom Herd runterspringen sehen, er würde leise ins Schlafzimmer hochgehen und Jonathan sanft wecken, oder er würde sich einfach so neben ihn legen, wenn es kalt wäre, oder er würde vorher etwas essen, wenn er Hunger hätte. Jonathan würde sich nicht wundern, sie würden sich lange küssen, Serge würde ihm von seiner Reise, von dieser mutigen Reise erzählen, und dann würden sie in dem großen Bett einschlafen, noch in dieser Nacht, und von da an immer.

Und wo sonst sollte sich dieser Traum erfüllen als im Land Nangilima?

2 Gedanken zu „Duvert und Lindgren und der Sprung in ein besseres Leben

  1. Bei E.M. Forster springt man übrigens so ins bessere Leben:

    «Es ist nie zu spät», sagte Mr Pinmay und erlaubte ihm eine langsame Umarmung, die letzte Bewegung, die dieser Körper je vollführen würde. «Die Gnade Gottes ist unendlich und währet immer und ewiglich. Er gibt uns immer wieder eine Gelegenheit. Wir haben gefehlt in diesem Leben, doch im künftigen Leben wird es anders sein.»
    Der Sterbende schien schließlich Trost zu finden. «Das künftige Leben», flüsterte er, diesmal jedoch deutlicher. «Ich hatte es vergessen. Bist du sicher, dass es kommen wird?»
    «Selbst deine alte, falsche Religion war sich dessen sicher.»
    «Und werden wir uns dort begegnen, du und ich?», fragte Vithobai mit einer zärtlichen und doch ehrfürchtigen Liebkosung.
    «Gewiss, wenn wir Gottes Gebote befolgen.»
    «Werden wir einander erneut erkennen?»
    «Ja, mit all unserer geistigen Erkenntnis.»
    «Und wird es dort Liebe geben?»
    «Im echten und wahren Sinne, ja.»
    «Echte und wahre Liebe! Ach, das wäre herrlich.» Seine Stimme wurde kräftiger, seine Augen hatten eine ernste Schönheit, wie er da seinen Freund umarmte, von dem er durch die irdischen Wechselfälle so lange getrennt gewesen war. Bald würde Gott alle Tränen trocknen. «Das künftige Leben», rief er laut. «Leben, Leben, ewiges Leben. Warte dort auf mich.» Und er stieß dem Missionar das Messer ins Herz.
    Der kräftige Stoß beschleunigte sein eigenes Schicksal. Er hatte kaum die Kraft, den Leichnam auf den Boden zu wälzen und das Gebinde aus blauen Blumen darüberzubreiten, aber er überlebte für einen kleinen Augenblick, und es war der köstlichste, den er je gekannt hatte. Denn endlich war die Liebe errungen, und er war wieder ein König, er hatte einen Sendboten vorausgeschickt, der sein Kommen in jenem künftigen Leben ankündigen würde, wie sich das bei einem großen Häuptling schickte. «Zehn Jahre habe ich dir gedient», dachte er, «und dein Joch war schwer, doch meines wird noch schwerer sein, und du sollst mir von jetzt an immer und ewig dienen.» Er zog sich ein wenig in die Höhe und blickte über die Brüstung. Dort unten standen ein Pferd und ein Wagen, dahinter erstreckte sich das Tal, über das er einst geherrscht, der Platz, an dem die Hütte gestanden hatte, die Überreste seines alten Pfahlbaus, die Schulen, das Krankenhaus, der Friedhof, die Holzstöße, der verunreinigte Fluss, all das, worin er seit Langem die Zeichen seiner Schande erblickt hatte. Doch an diesem Morgen bedeuteten diese Dinge nichts, sie flogen dahin wie Nebel, und unter ihnen, fest und ewig, erstreckte sich das Königreich der Toten. Ihn überkam ein Gefühl der Freude wie als Knabe, er wurde dort erwartet. Er stieg auf den Leichnam, kletterte höher, streckte die Arme über den Kopf, ließ – umstrahlt von der Sonne, nackt und siegreich – alle Hemmnisse und Demütigungen hinter sich und stieß wie ein Falke vom Mauerrand auf den entsetzten Schatten hinab.

    (Life to come, dt. in „Das künftige Leben“, HH 2009

  2. Ein paar Bemerkungen von mir zu Lindgren und den „Brüdern Löwenherz“ finden Interessiertre hier: gigi-online.de.

    Mich haben, wie Joachim schon sagte, die motivischen Korrespondenzen zwischen Lindgren und Duvert verblüfft. Sollten sie nicht auf Duverts Lektüre von Lindgren zurückgehen, wären sie umso erstaunlicher: Zwei einander liebende Jungs verschiedenen Alters, ein freies Lebe auf dem Land, eine bedenkliche Nachbarin, ein Kampf gegen böse Mächte (Drache/Mutter), am Ende der Tod und das Licht.

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