„Das interessiert mich nicht!“ – der Zugang zur Literatur wird durch dieses Lieblingskriterium des vermeintlichen Großkritikers nicht gerade vereinfacht. Wer seine Lebensaufgabe darin sieht, der Literatur als Mittler zu dienen, sollte vor allem eins: neugierig sein und neugierig machen. Und nebenbei, am konkreten Beispiel, erkennbar werden lassen, welche Art von Neugier Literatur befriedigen kann, und auf welche Weise sie das tut. Man könnte sagen: Nie war es so wichtig wie heute, das von der Literatur vermittelte und nur von ihr vermittelbare Wissen zu beschreiben, es „schmackhaft“ zu machen und selbst bei jeder Gelegenheit einzusetzen. Auch bei längerem Nachdenken fallen einem kaum Situationen ein, in denen Reich-Ranicki sich für solche Aufgaben engagiert hätte. Statt dessen ging es ihm darum, die heiligen Hallen seiner Literatur von Unwürdigem freizuhalten. In diesem Furor unterliefen ihm immer wieder böse Fehler, deren Konsequenzen jedoch nicht er selbst, sondern die von ihm derart Missverstandenen zu tragen hatten. Damit fällt die Summe dieses Lebens bisher ausgesprochen mager aus – wahrscheinlich ist er ganz einfach zu eitel für seinen Beruf.
Kleine Anekdote: als ihm über die Redaktion des „Literarischen Quartetts“ die von uns eingereichte Gesamtausgabe von Detlev Meyers „Biografie der Bestürzung“ vorgelegt wurde, „interessierte ihn das nicht“, denn: „Es geht nur um Schwänze, Schwänze, Schwänze.“ Ich weiß nicht, welche Wichsvorlage auf seinem Nachttisch er damit meinte, Detlev Meyers Buch kann es jedenfalls nicht gewesen sein.
Ein anderes Beispiel seiner frappierenden Leichtfertigkeit bietet seine Reaktion auf Christoph Geisers „Gefängnis der Wünsche“, dieses Mal live am 19. November 1992. Originalton MRR: „Es gibt Bücher, es gibt Gedichte, und mir geht es so, vielleicht Ihnen nicht, wo ich lese, und sage, was will der Mann, ich weiß es nicht, aber ich fühle, das ist gute Lyrik. Wenn ich mir dann Mühe gebe, dann rede ich irgendwas dem Autor ein, was er hat sagen wollen. Irgendwelche Argumente, um meine Gefühle zu begründen, die finde ich schon, der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht solche Argumente finde.“ Bis jetzt hat ihn der Teufel noch nicht geholt.
Das Problem ist meines Erachtens nicht Herr Reich-Ranicki, mittlerweile ein Greis, dessen Starsinn vermutlich nicht größer ist als der anderer Greise; das Problem ist eine gewisse sehr selbstgefällige Presse, und schließlich das noch unendlich viel selbstgefälligere Fernsehen, das aus diesem Mann einen Star gemacht hat, der unverhältnismäßig viel größer erscheint als die meisten der Schriftsteller, denen er als Literaturkritiker ja eigentlich dienen sollte. Ich frage mich, was einen Schreibenden dazu bringen mag, durch Geplapper seinen Ruf zu ruinieren. Literaturkritik ist im Fernsehen jedenfalls nicht möglich, Fernsehrunden, cholerische Anfälle usw., können keine Literatur vermitteln, sie sind höchstens geeignet, aus Literaturkritikern Fernsehstars zu machen; an den behandelten Werken selbst mögen sie vielleicht ein gewisses – ungesundes – Interesse wecken, das kann aber jeder Fernsehjournalist zustande bringen, in Zeitungen muss er deshalb nicht geschrieben haben, und lesen muss er auch nicht können. Wir hatten hier Herrn Pivot, einen ausgebildeten Wirtschaftsjournalisten mit großer Klappe, dem bei etwas komplizierterer Literatur schnell die Hutschnur platzte, und der vor allem dadurch berühmt wurde, dass er Charles Bukowski, der die Freundlichkeit besaß, den originalen Bukowski zu geben, aus der laufenden Sendung schmiss. Nur Handke war seinem Gastgeber überlegen. Der zog stets seine angeödete Handke-Fresse und trickste alle damit aus. Gut, in Deutschland mag sich der Zirkus etwas gesetzter geben, das entspricht der deutschen Art, aber Zirkus bleibt es. Die Leute, die sich in ihn hineinbegeben, werden sich schon auch ihre Gedanken machen, aber mit Literatur und Kritik, oder gar mit Würde, hat das sicherlich kaum etwas zu tun.
Wir erleben zurzeit ähnliches mit unserem Literaturclub im Fernsehen. Bei Simon Froehlings Buch war kürzlich die Frage der Moderatorin im Raum: „Was sollen denn Darkrooms?“ Frau, sie hätte die Frage vorher den Mitdiskutanten stellen sollen, vielleicht hätte sie dann mitreden können…