… oder anders gefragt: Wollen Schwule (noch) lesen? Die amerikanische „Gay & Lesbian Review“ veröffentlicht in ihrer Ausgabe Jan/Feb 2010 einen kanpp fünfseiten Artikel von David Bergmann: „Do we need gay literature?“ So große Fragen werden in letzter Zeit nicht mehr oft gestellt, deshalb eine kleine Antwort aus deutscher Verlagssicht.
Ein großer Artikel zu einem spannenden Thema, das jedoch als solches sehr unklar ist: Was wäre „gay literature“, wer ist „we“, und wofür und wozu könnten diese „we“ die Literatur gebrauchen? Diese Fragen beantwortet der Autor nicht, weil ihm die Antworten selbstverständlich erscheinen: Literatur von Schwulen für Schwule über schwule Themen sollen die Schwulenbewegung oder -emanzipation voranbringen. Statt sein Thema begrifflich zu fundieren, greift der Autor auf einen sehr alten Text der wilden Franzosen Deleuze und Guattari von 1983 zurück, der literarische Ausdrucksformen von Minderheiten als „minor literature“ kategorisiert, egal ob es sich um Deutsch-Tschechen wie Kafka oder um schwule Amerikaner handelt.
Welche Auffassungen vertritt Bergmann?
1. Eine kleine Literatur schafft sich eine eigene Sprache aus der herrschenden Sprache heraus, indem sie ihre eigenen Bedeutungen prägt oder „signifiziert“. Um den Status der kleinen Literatur zugesprochen zu bekommen, müssen solche Signifizierungen gelingen, und das steht hinsichtlich schwuler Literatur in Frage.
2. Schon 1978, beim Erscheinen von „Dancer of the Dance“, schien zweifelhaft, ob heterosexuelle Leser jemals daran interessiert sein würden zu lesen, was Schwule miteinander tun.
3. Selbst homosexuelle Männer, die über homosexuelle Themen schreiben, halten „homosexuelle Literatur“ für uninteressant weil thematisch allzusehr eingeengt, was offensichtlich eine Fehleinschätzung ist.
4. Die schwule Leserschaft mag zahlenmäßig klein sein, aber sie ist hingebungsvoll, weil sie solche Bücher wirklich braucht.
5. Am Beispiel Merrills greift Bergmann (wahrscheinlich ohne sie zu kennen) Deterings These auf, dass schwule Dichter aus der Notwendigkeit der Mimikry heraus literarische Formen weiterentwickeln.
6. Gesellschaftlich gesehen ist die Akzeptanz schwulen Lebens jenseits partnerschaftlicher Modelle nach wie vor gering.
7. Wer über schwule Figuren schreibt, wird automatisch marginalisiert.
8. Amerikanische Autoren blicken nicht über den Tellerrand der eigenen Landesgrenzen hinweg.
Das ist einigermaßen „feuilletonistisch“ argumentiert und basiert offenbar auf einem Verständnis schwuler Literatur als Teil einer klassischen „Subkultur“, d.h. einer Minderheitenversion der „großen“ Kultur im Kleinformat. Auch wenn in den 70er Jahren in Europa viel von Subkulturen die Rede war, ist heute wohl klar, dass sich ein solches Denkmodell nur auf die spezielle Ausprägung des multikulturellen Zusammenlebens der USA anwenden lässt; in Europa haben sich niemals subkulturelle Zusammenhänge von auch nur annähernd so stabiler Form entwickelt. Für Europa heißt es seit Mann, Proust und Genet: welchen Beitrag leisten schwule Autoren als schwule Autoren zur zeitgenössischen Literatur? Und: wen interessiert das?
In den 90er Jahren konnte in Deutschland erstmals überall offen über Homosexualität gesprochen werden. Die Folge war zweischneidig: einerseits konnte das heterosexuelle Feuilleton seine Rezeption schwuler Autoren um gewisse biografische Details erweitern, andererseits verlor der kulturelle Diskurs für die Homosexuellen jede Bedeutung: die Zeit der kulturellen „Tarnung“ war vorbei. Bergmanns Satz 2: Heterosexuelle wollen keine Bücher über Schwule lesen, ist seit 1978 gültig geblieben, und nun wollen auch Homosexuelle keine Bücher über Schwule mehr lesen. Soviel zur Frage: wen interessiert das. Die Frage nach dem möglichen Beitrag schwuler Autoren zur Literatur ist ebenso leicht wie banal zu beantworten: da sie ein Teil des Alltags sind, sind ihre literarischen Stellungnahmen aus Gründen der Vollständigkeit erforderlich, so wie die Bücher von Frauen, Schwarzen, Migranten etc., oder wie der reaktionäre Kram eines Martin Mosebach. Die künstlerische Gestaltung ermöglicht es, Standpunkte zu rezipieren, mit denen man sich im richtigen Leben nicht auseinandersetzen würde: die Gestaltung schafft eine Transparenz, die zur Auseinandersetzung einlädt und dadurch Meinungsgegensätze erträglich macht.
Mit anderen Worten: die Literatur braucht schwule Autoren, um ihren eigenen Standards einer Reflexion und Erörterung des Zusammenlebens gerecht zu werden, und damit brauchen auch die Schwulen als Angehörige dieser Kultur schwule Literatur. Die Schwulen als Schwule haben alles, was sie brauchen; die Literatur gehört nicht dazu. Auch, wenn das ganz offensichtlich ein Fehler in der Selbstwahrnehmung ist, gibt es keine Möglichkeiten, ihn zu korrigieren. Wie der heterosexuelle Autor Wilhelm Genazino jüngst bei der Verleihung eines Literaturpreises sagte: die Stimme der Literatur wird in dieser Gesellschaft nicht mehr gehört. Damit verkommt Literatur zu individueller Unterhaltung, was diejenigen, die sich für ein solches Hobby entscheiden, nicht daran hindern muss, es mit allem Ernst zu betreiben. Und gerade Schwule haben ja Übung darin, als schräge Außenseiter wahrgenommen zu werden.
Ach ja, David Bergmann resumiert statt dessen, dass wir natürlich gay literature brauchen, weil sie zu so vielem nützlich ist. Das ist schön normativ gedacht und lässt die Selbstwahrnehmung der so forsch als „we“ bezeichneten Menschen außer Betracht. Das bringt uns nicht weiter.
Wir leben tatsächlich in einer Übergangszeit, in welcher „gay literature“ marginalisiert, ja verleugnet wird. Das hat verschiedene Gründe.
Zum einen wird die Belletristik allgemein von anderen medialen Darstellungen verdrängt. Es fällt auch auf, dass in den grossen „Normalverlagen“ nicht mehr viel „schwule Literatur“ publiziert wird, die schielen nach den neuen Medien.
Zum anderen braucht es heute keine spezielle Identität mehr, um Sex mit dem gleichen Geschlecht zu haben/bekommen. Und unter den Schwulen wird die Identität durch Fetische ersetzt, also sie setzt sich daraus zusammen und bleibt somit zerbrechlich. Und das ist gut so?
Wesentlich ist auch die kulturelle Heterosexualisierung von Männersexkontakten, trotz gegenteiligen Warnrufen besorgter Heteros, die sich „homosexualisiert“ fühlen. Nun, jeder sieht das, was er sehen kann…
Gay literature könnte helfen, Identitäten zu ergänzen, aber keiner will das offensichtlich, weil auch keiner Verantwortung für sich selber zu übernehmen gewillt ist. (sh. Barebacking, Fetischisierung) Un-eindeutige Identitäten geben die Illusion, stets anpassungsfähig zu bleiben in dieser immer schneller sich drehenden Heterrorkultur.
Letztlich rücken Generationen nach, die sich aus Gründen der Herkunftskultur schwer tun, eine sexuelle Identität anzunehmen, denn ihre Eltern hatten schon nur die Rollenfunktionen gelernt, was ihnen genügt hatte. Aufzuwachsen in diesen „anpassungsbereiten“ Uneindeutigkeiten, macht es den meisten Jungs schwer, ein coming out und eine Krise/Katharsis zu wagen, oder gar sich dafür mit Literatur zu versehen. Wozu eine Identität wagen, wenn sie gleich um die Ecke torpediert, oder im Ausgang diskriminiert wird?
Hetero-like, heteromässig, untuntig auf der einen, das Spiel mit der pseudo Homosexualität mittels Sex mit Transen, Transvestiten, Schwanzmädchen und dergl. auf der anderen Seite, oder versteckt in Fetischen wie BDSM, DWTs, SM und anderem.
Wir sind in einer Transformationszeit wie damals beim Dritten Geschlecht der Tante Magnesia selig!
Büchermacher und Buchhändler kommentieren den Versuch eines US-Amerikaners, das Existenzrecht schwullesbischer Literatur zu begründen. Und sie mäkeln und klagen. Sie glauben, die klassische Stammleserschaft sei verloren. Und hoffen auf eine neue. Ihre Gebete in Gottes Ohr!
Dabei macht David Bergmann es ganz listig. Seine Frage >Do we need gay literature?den< Schwulen. Als ob das eine einheitliche Spezies wäre! Als ob über sie generelle Aussagen getroffen werden könnten. Als ob sie alle von schwuler Literatur erreicht werden könnten. Als ob alle Nichtschwulen, sprich so genannte Heteros, Große Literatur läsen.
WIR, das sind die schwulen, lesbischen und befreundeten Literaturinteressierten. Sie brauchen solche Bücher, und für sie werden sie – nicht wahr, Johanna? – auch gemacht. Auf diese Klientel treffen Bergmanns Aussagen zu. Die Amerikaner machen uns schon wieder vor, dass wir nicht die Wunden lecken, sondern weitermachen sollen. Auch die Büchermacher und -händler.
»… ob heterosexuelle Leser jemals daran interessiert sein würden zu lesen, was Schwule miteinander tun … « Selbstverständlich nicht. Das ist der Sinn von Heterosexualität. Der Begriff, wie die Lebensart Heterosexualität beruhen auf den Ausschluss von Homosexualität. Und das ist ein Erfolgskonzept. Das ist bewehrter Sozialinstinkt.
In sofern täuscht die Fragestellung »… Für Europa heißt es seit Mann, Proust und Genet: welchen Beitrag leisten schwule Autoren als schwule Autoren zur zeitgenössischen Literatur?« eine Eingemeindung vor. Abschieben in Elfenbeinturm ist eben Verteidigungsstrategie der europäischen Bildungsbürgertums und hocheffektiv. »Wegloben« nennt man das wohl in der Politik. Abschieben in exterritoriale Subkultur ist dagegen nur der unmoderne Diskurs.
Gelänge es der schwulen Literatur eine Homosexualität zu kreieren, die Heten in die ungeschützten Weichteile fährt, dann kann man auch auf freiwillige und pure Wissbegierde hoffen. Etwas unter dem Motto »Homosexualität ist für alle da«.
»… ein solches Denkmodell nur auf die spezielle Ausprägung des multikulturellen Zusammenlebens der USA anwenden lässt …«
an Rüdiger: ich wusste gar nicht, dass Du solch ein Sponti bist! Für mich gilt: er denken, dann handeln, und insofern kritisiere ich Denkansätze, die keine sinnvollen Handlungsweisen herbeiführen können. Mein letzter Satz lautet: „Das bringt uns nicht weiter.“
Unters „Wundenlecken“ lasse ich mich nicht subsumieren, da hasst Du meinen Text arg missverstanden! Er handelt von der unterschiedlichen gesellschaftlichen Situation in USA und Deutschland, dort gibt es sehr starke Subkulturen, hier nicht (oder könntest Du mir eine einzige nennen?). Insofern ist Bergmann nicht listig, sondern eben amerikanisch und bringt uns nicht weiter. Und da wir ja nicht klagen, sind wir auf der Suche nach Ansätzen, die weiterbringen. Hast Du einen? Dann her damit.
an Peter: leider haben wohl nicht die Heten die Homosexualität (als Ausschlusskriterium) erfunden, sondern die Homos die Heterosexualität – die Heten selbst sehen sich doch nicht als eine von zwei oder mehreren möglichen Lebensweisen! Kann es sein, dass Du ein wenig zirkulär argumentierst? Du erklärst das Desinteresse nicht, sondern machst es flux zur Ausgangssituation, das nennt man wohl petitio prinzipii.