Ein Mann hadert mit sich und sicherheitshalber auch gleich mit Gott – zwar konnte er skrupellos handeln, doch sein Gewissen erweist sich als nicht robust genug. Diesem Mann tritt ein lachendes Mädchen entgegen, völlig naiv und völlig skrupellos, und erlöst ihn aus seinem selbstgezimmerten Gefängnis. So etwa könnte man die Handlung von „Baumeister Solness“ zusammenfassen.
Dieser Solness lebt an der Seite einer „toten“ Frau, nutzt die platonische Liebe einer Angestellten aus und braucht das lachende Mädchen Hilde als den Menschen, mit dem er reden kann. Von Sex ist hier keine Rede. Und da kommt ein Regisseur, streicht vorne ein paar Sätze und fügt hinten ein paar Sätze hinzu, und schon haben wir es mit einem Fall von sexuellem Missbrauch zu tun. Es ist zum Weinen. Immerhin: ich hatte den Eindruck, dem Hamburger Publikum hing diese Standardpointe ebenso wie mir zum Halse heraus.
Nur kurz die Fakten: Hilde drängt sich Solness als „alte Bekannte“ auf, Solness kann sich nicht erinnern, bis er schließlich erkennt, wie gut es wäre, das Spiel einfach mitzuspielen: er gewinnt ohne Mühe eine Freundin, die ihn bewundert. Dieses Spiel von „so war es – so war es nicht“ streicht KuÅ¡ej so zusammen, dass diese fiktive Vergangenheit nebst Kuss plötzlich real wird. Flugs erfindet er einen Familienstreit als Grund, aus dem Hilde ihren Heimatort verlassen hat, und lässt sie schließlich Solness vorwerfen, sie dazu gemacht zu haben, was sie ist.
Der Zuschauer weiß dagegen: dazu gemacht hat sie niemand anderes als der Regisseur, der ein Mädchen, das nach Ibsens Anweisung in Wanderertracht auftritt, in eine Schlampe verwandelt und ihr sogar die Bluse auszieht. Wer im Tintenfleck die Fickszene erkennt, ist selbst das Schwein, so funktioniert der Rohrschach-Test. Herr KuÅ¡ej sollte das mit seinem Therapeuten erledigen und uns da rauslassen. Diese Umdeutung, die im Kontext der sonst textgetreuen Aufführung zudem völlig unmotiviert ist, ist umso bedauerlicher, als die Schauspieler in dieser eigentümlichen Inszenierung eine ganz großartige Arbeit abgeliefert haben – selbst die von der Regie „verkorkste“ Hilde.
Nach dem Copyright-Ärger mit Peter Weiss (Marat) sucht man sich im Deutschen Schauspielhaus jetzt offenbar Stücke gemeinfreier Autoren, die solchen Unfug wehrlos ertragen müssen. (Siebzig Jahre nach dem Tod erlischt das Copyright, der Autor wird „gemeinfrei“.) Als nächstes wilder Lesbensex mit Maria Stuart?