Als in den 1980er Jahren die westdeutsche Schwulenbewegung ihre ersten Institutionen herausbildete, fand das neue Selbstbewusstsein auch im Stilisieren eigener Idole seinen Ausdruck – Michel Foucault und Derek Jarman wurden so etwas wie heilig gesprochen, eine Euphorie, die man heute, ohne ihre charismatische Ausstrahlung zu erfahren, nicht mehr so recht nachvollziehen kann. Neben Rosa von Praunheim fiel in Deutschland die Rolle des „Heiligen“ einem gewissen Ronald M. Schernikau zu. Der Anlass war die Veröffentlichung einer autobiografischen Erzählung von nicht einmal einhundert Seiten („Kleinstadtnovelle“), die offenbar mit ihrem „Ihr-könnt-mich-mal“-Tonfall den Nerv der Zeit getroffen hat und in mehreren Auflagen nachgedruckt wurde. Der Autor zog nach Berlin und wurde berühmt, auch wenn sein nächstes Buch („Die Tage in L.“) fast zehn Jahre auf sich warten ließ. Schernikau gelang es, mit seiner Schönheit, seiner Selbstverliebtheit und seiner Lust an der Provokation eine Aura um sich herum zu erschaffen, der nur wenige widerstehen konnten. Nach einer Lesung aus „Die Tage in L.“ schrieb Jan Feddersen in der Taz: „Ein Mann mit Timbre“. Sein Artikel widmete sich der physischen Präsenz des Autors, der Inhalt des Buchs war sekundär – oder doch wieder nicht, denn die Tatsache, dass ein intelligenter junger Mann sich derart für die DDR begeistern konnte, und zwar nicht für große Ideologie, sondern die ganz konkrete Spießigkeit, ließ ihn schon ein wenig außerweltlich erscheinen.
Heute ist die Zeit für solche Helden vorbei. Es hat also durchaus archäologische Qualitäten, wenn Matthias Frings versucht, achtzehn Jahre nach seinem Tod dem Geheimnis des Ronald M. Schernikau auf die Spur zu kommen. Dazu setzt er viel daran, die Zeit selbst, die Achtziger Jahre, dem heutigen Leser vor Augen zu stellen. Zu diesem Zweck erzählt der Autor zunächst einmal die Geschichte seiner eigenen Jugend in Berlin und liefert so Ambiente und Aroma, in dem Schernikau für kurze Zeit seinen Glanz erstrahlen ließ. Und um die Jugend seines Helden zu schildern, schlüpft Frings in die Haut von dessen Mutter Ellen, die Schernikau in Magdeburg zur Welt bringt und mit dem Sechsjährigen in den Westen flieht.
Und damit sind wir beim Problem des Buchs angelangt: anstatt seine beeindruckende Sammlung biografischer Details mit journalistischen Mitteln aufzubereiten, literarisiert Frings sein Material in nachempfundenen Szenen und Dialogen. Das klingt dann so: „Ellen Schernikau hat ihren Kopf an die Schulter von Lorenz gelegt. Sie zieht die Decke ein wenig höher über ihre verschwitzten Körper. Beide schweigen, sind ganz im Augenblick und nirgendwo.“ Das ist gut gemeint, aber solche Spielszenen können die biografische Erkundung nicht ersetzen. Es mag durchaus sein, dass Frings, der mit Schernikau persönlich befreundet war, in erster Linie ein detailliertes Bild dieses Lebens zu malen versucht, und auf die Analyse der Beweggründe weitgehend verzichtet. All jene, die Ronald Schernikau gekannt haben und ihm ein Denkmal wünschen, werden hier auf ihre Kosten kommen, und auch den Lesern dramatischer „Real-Life-Stories“ wird viel Stoff geboten. Als jemand, der Schernikau flüchtig kannte, bin ich genauso schlau wie vorher: mein flüchtiger Eindruck wird aufgefrischt, aber verstehen tue ich den jungen Mann noch immer nicht. Das finde ich schade.
Eine Kleinigkeit, wegen Foucault.
Michel Foucault als Schwulenikone? Hat das Guibert zu verantworten? Der deutsche Leser findet schon bei Hubert Fichte, der mit dem Philosophen Bekanntschaft schloss, als der „noch nicht schwul war“, wie es, beispielsweise, um dessen persönlichen Mut bestellt war. Man braucht einen Namen, aber offenbar keine Courage, um postum zur Ikone zu werden, und so hat Roland Barthes wohl auch noch Chancen. Über dessen Libido informierten uns zwar schon andere nach seinem Tod herausgekommene Werke, etwa die seltsamen „Incidents“, aber nun erscheint das private Tagebuch, das er während einer Chinareise in den 70ern führte: Carnets du voyage en Chine, Bourgois/Imec, 23 €. Darin nimmt er nun auch realpolitisch kein Blatt mehr vor den Mund, und man erfährt, was ihn im Reich der Mitte wirklich berührte, namentlich, dass er immer schlechtere Laune bekam, weil – ganz im Gegensatz zu Japan, das er zuvor besucht hatte – keiner der Eingeborenen nachts bei ihm anklopfen wollte (Zitat: „Schlimmer noch: Ich bekomme nicht ein einziges chinesisches Zipfelchen zu Gesicht!“). Und wie reagiert die Kritik darauf? Wundert sie sich etwa über die offenkundige Verlogenheit der damals erschienenen Artikel, oder findet es befremdlich, erst so spät aufgeklärt zu werden? Aber nein doch, es wird gejubelt: Barthes wagt es! Was wagte er? Sich nichts vorzumachen in privaten, niemals zur Veröffentlichung bestimmten Aufzeichnungen? Sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, gilt schon als Heldentat. Barthes Freunde mögen diese Publikation gegen den ausdrücklichen Willen des Verstorbenen für skandalös halten, seine Erben wissen durchaus, was sie tun. Monumente werden gemeinhin nachträglich erbaut.
Im vergangenen Sommer starb übrigens, völlig vergessen, Tony Duvert. Er war schon wochenlang tot, bevor man ihn auffand. Duvert ist keine Ikone, und wird es wohl auch nicht mehr werden, denn er hat schon zu Lebzeiten nie gescheut, öffentlich zu machen, was er tatsächlich fühlte und dachte.
Nee, ich denke, das hat Judith Butler zu verantworten – in USA erschien wirklich ein Buch mit dem Titel „Saint Foucault“.
Sollte es so sein, dann also, letzten Endes, Didier Eribon. Mithin beißt sich der Kater wieder einmal in den Schwanz. Pierre Klossowski, der solches noch am eigenen Leib erlebte, sagte einmal, es sei geradezu niederschmetternd, wie sehr man in Berkeley missverstanden werden könne.
Ich habe mir in den vergangenen drei Tagen das Frings-Buch über Schernikau zu Gemüte geführt – diverse sehr positive Rezensionen in der taz, der Süddeutschen und der FAZ hatten mich dazu angeregt; außerdem die Erinnerung an die Lektüre der Kleinstadtnovelle vor etlichen Jahren; ich verstand damals vieles nicht in dem Buch, fühlte mich aber verstanden, wäre gerne b. gewesen, noch lieber Leif… Nach der, immer kursorischer werdenden, zum Schluss ganze Kapitel auslassender Lektüre des Frings-Buches kann ich Joachim Bartholomae’s Resumee nur unterschreiben: Roland Schernikau wird einem nicht nur nicht verständlicher, lesbarer durch dieses alles in allem überflüssige Buch, er kommt einem nicht einmal ansatzweise nahe. Ausgewalzte läppische Episoden über die roaring seventies in der Berliner Schwulenszene, viel Frings und immer weniger Schernikau, Zwischenspiele aus dem Leben der Schernikau-Mutter Ellen, bieder und langweilig und seitenfüllend, verwelkte Stilblüten noch und nöcher, Sex und Sozialismus als ungenießbare Mixtur… Und alles in allem: Hier kannibalisiert einer das Leben und Werk eines anderen vornehmlich zum Zwecke der Selbst-Maquillage. Man will gar nicht wissen, was Schernikau von alldem gehalten hätte. Vielleicht behält Dietmar Dath, der das Buch aus mir unerfindlichen Gründen auch angepriesen hat, ja in einem Recht: dass das Wichtigste an Frings‘ sei, dass es (womöglich) wieder mehr Leute dazu bringt, Schernikau zu lesen. Hoffentlich hat den einen oder anderen der Frings-Wälzer nicht im vorhinein schon erschöpft und abgeschreckt.
Eine kleine Frage zwischendurch. Hat sich jemand schon mal an das Gesamtwerk von marcel proust gelesen? Ich wollte mich demnächst da mal ran wagen.