Abdellah Taïa hat im März 2008 im Alter von 35 Jahren sein 5. Buch veröffentlicht, das ist beachtlich, und für eins von zehn Kindern eines Hausmeisters aus der Gegend von Rabat ist es sicher noch erstaunlicher. Ein Stipendium ermöglichte Taïa die Ausreise, und nun lebt er wie viele andere Marokkaner in Paris. Verschiedene Medien feiern ihn als ersten offen schwulen Schriftsteller Marokkos – gilt das Heimatland als rückständig, noch dazu islamisch-rückständig, haben wir es mit einem armen Homo und einem tapferen Emanzipationskämpfer zu tun, offen schwule Schriftsteller aus Deutschland lösen keine annähernd vergleichbare Welle der Sympathie aus.
Ohne „rückständiges“ Heimatland geht es nicht, wie man auch am Beispiel homosexueller israelischer Autoren sieht, bei denen niemand es prickelnd findet, wenn sie sich zu Wort melden. Zwar fand vor langer Zeit ein gewisser Jesus Christus das Judentum für ethisch dringend reformbedürftig, aber heutzutage denkt vor lauter Political Correctness kein Westeuropäer mehr über eine mögliche Rückständigkeit nach. Männerschwarm hat schon vor vielen Jahren ein Buchprojekt übernommen, das bei Suhrkamp projektiert, dann aber abgebrochen worden war, Yossi Avnis „Garten der toten Bäume“. Benny Ziffer, neben seiner literarischen Arbeit immerhin Literaturchef von Haaretz, einer der wichtigsten israelischen Tageszeitungen, hat es nicht einmal bis zum Projektstatus bei Suhrkamp oder einem anderen deutschen Verlag geschafft. In seinem Roman „Ziffer und die Seinen“, der im Frühjahr bei Männerschwarm auf deutsch erscheinen wird, legt er dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der in den 30er Jahren Palästina bereist hat, einige schöne Worte in den Mund.
Zitat 1: „Wenn es nur gelänge, die natürliche Homosexualität der Araber mit dem subtilen Großstädtertum der jüdischen Bewohner Tel Avivs zu paaren, wäre es möglich, hier eine Rasse von Homosexuellen par excellence zu schaffen, eine schöne und gesunde Rasse, die auf der Welt nicht ihresgleichen hätte.“ Was für ein Schelm! Nachdem seine Hirschfeld-Figur jedoch die spießige Realität besser kennen gelernt hat, wendet er sich resigniert ab. Zitat 2: „Ich begriff bereits, dass von diesem Ort nichts Gutes zu erwarten war, und so reifte in meinem Herzen der Entschluss heran, nach Europa zurückzukehren, wo es noch immer genügend aufrechte Menschen gab, die in der Lage waren, meine Arbeit wertzuschätzen.“
Warten wir ab, wie sehr die westliche Öffentlichkeit diesen mutigen Israeli beachten wird!
Noch einmal zurück zu Abdellah Taïa. Zwar ist es der Rezensentin der FAZ vollkommen unbekannt, aber bereits fünf Jahre vor der ersten Veröffentlichung Taïas machte ein anderer junger Autor aus Marokko von sich reden, auch er homosexuell. Rachid O., geboren in Rabat, wohnhaft in Paris, hat bisher vier sehr poetische Romane in französischer Sprache geschrieben, die zu lesen sich noch immer unbedingt lohnt. Vor allem mit „Chocolat chaud“ ist ihm ein wundervolles Porträt einer Kindheit gelungen, das ungleich komplexer angelegt ist als „Une mélancolie arabe“ seines jüngeren Kollegen Taïa. Offenbar hat diese Komplexität seinem Opferstatus geschadet und eine wahrhaft steile Karriere verhindert.
für Neugierige:
Adellah Taïa, Une mélancolie arabe, Seuil 2008
Rachid O., Chocolat chaud, Gallimard 1998
Yossi Avni, Der Garten der toten Bäume, Männerschwarm 2000 (vergriffen)
Benny Ziffer, Ziffer und die Seinen, Männerschwarm 2009
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf Taïas 2006 bei Seuil erschienenen kleinen autobiograph. Roman „L’armée du salut“ hinweisen, in dem u. a. das Verhältnis des kulturbeflissenen jungen Marokkaners mit (oder besser: zu) einem Genfer Universitätsmenschen – mithin zur schäbigen, honorigen Schweiz insgesamt – thematisiert wird.
Taïas schlichte, dokumentarische Bücher sind wohlgemerkt keine „marokkanische“ Literatur, sondern französische, d. h. in erster Linie geschrieben für ein französisches Publikum, gleichgültig, ob arabischstämmig oder nicht. Falls Nordafrikaner diese französische Literatur lesen, bzw. Zugang zu ihr haben, stehen sie ohnehin zwischen den beiden Welten. Aber ein auf dem platten Land aufgewachsener Europäer, der bei der ersten besten Gelegenheit in die Großstadt ausgewandert ist und dort nun Bücher über sein Leben schreibt, tut das ja auch nicht unbedingt, um das heimische Dorf darüber zu informieren.
Wer etwas mehr über Taïa erfahren will, hier ein Interview:
http://livres.fluctuat.net/abdellah-taia/interviews/2496-saint-taia-fou-et-funambule.html
Ich möchte kurz nachtragen, dass es wohl gerade der naive Bildungshunger ist, der Taïa so sympathisch macht. Es ist sicherlich nicht seine Schuld, sollten irgendwelche Rezensenten diese unprätentiös verfassten kleine Selbstzeugnisse in Aufschreie eines Emanzipationskämpfers umzulügen versuchen.
Ich hatte ein etwas komisches Gefühl dabei, einen Autor über sein viertes Buch kennen zu lernen; allerdings hatte ich nach der Lektüre wirklich keine Lust mehr, nun auch noch die Anfänge nachzulesen. „Mélancolie Arabe“ ist für mich kein Text, der – für Leser, die mit dem bisherigen Werk des Autors nicht vertraut sind – Aufschluss über irgend etwas gäbe, noch dazu in einem sehr „schlichten“ Französisch verfasst, soweit ich das beurteilen kann. Die Charakterisierung als „dokumentarisch“ mag zutreffen, im Sinne des Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Aber das lese ich ja auch nicht.
Haben Sie einen Tipp, welches der früheren Bücher man lesen sollte?
Um das so krass zu sagen: ich halte keines der Bücher von Taïa für vom literar. Standpunkt aus interessant genug, um es dem deutschen Leser zu empfehlen. „L’armée du salut“ ist jedoch für jemanden, der sich für Frankreich und die Mentalität eines jungen Nordafrikaners, der unbedingt nach Europa möchte – nicht aus ökonomischen Gründen, sondern einfach, weil er sich beengt fühlt in seinem abgelegenen Heimatland – von gewissem Interesse. Man hat häufig ein falsches Verständnis von diesen Dingen und verkitscht das angebliche Elend oder kulturelle Zwangskorsett. Taïa ist da ganz ehrlich, und möglicherweise ehrlicher als Rachid O., mit dem er es in literar. Hinsicht im Übrigen nicht aufnehmen kann und wohl auch gar nicht will. Man ist in Marokko, namentlich als Schwuler – was man spätestens seit W.S. Burroughs aber auch im Westen wissen sollte – wohl schwerlich unglücklicher als beispielsweise in Niederbayern; doch so selbstverständlich es für einen an der großen weiten Welt interessierten Niederbayern ist, nach München oder gar Köln abzuhauen, ist es eben auch für jemanden aus Afrika, Südamerika oder den abgelegenen Ecken Asiens, den Weg in jene Teile der Welt zu suchen, in denen auch spätabends noch ein paar Lichtlein brennen, also in eine der Metropolen Westeuropas oder Nordamerikas. Und wenn mir an Taïa die Schlichtheit (ohne Anführungszeichen!) gefällt, dann v. a. auch darum, weil so schlicht zu schreiben hier mittlerweile geradezu eine Leistung ist. Je weniger den Herrschaften einfällt, desto lyrisch aufgemotzter erscheint das alles. Genet wird eben allseits gelesen, aber nicht verkraftet.
Und weil Taïa nun recht wenig Aufhebens um seine Minderheitenlibido macht, scheint er mir auch darin äußerst modern, dieser Slaoui (d. h. gebürtig aus Salé, der uralten Piratenrepublik). Er gehört da ganz und gar zu dieser neuen Generation, zu der auch jüngere Filmemacher wie Sébastien Lifshitz oder der Westschweizer Lionel Baier zählen, Leute, die in ihren Werken das Thema e i g e n t l i c h gar nicht mehr abhandeln. (Lifshitz sehr typisch auf die Frage, warum seine Filmhelden beiläufig meist schwul sind: Das hat keinen besonderen Grund, aber ich habe gewisse Schwierigkeiten, mich in einen Hetero hineinzuversetzen.) Diese Selbstverständlichkeit, übersehen zu dürfen – fast, denn e i n e Rede musste doch noch gehalten werden – hat es bekanntlich Obama erlaubt, Präsident eines Landes voller Rassisten zu werden, und wird es Delanoë hier im Frankreich der beaufs möglicherweise auch erlauben, einen vergleichbaren Posten zu ergattern. Das ist, wie wir alle wissen, ein gewaltiger Fortschritt, begleitet auf der anderen Seite von nachwachsenden Ehrgeizigen wie Tristan Garcia, der, ohne zur Familie zu gehören, jedes Gaydar zum Ausschlagen bringt und Schwules thematisiert „einfach, weil es mehr hergibt“. So etwas ist nun nicht in jedem Fall billiger Opportunismus, sondern kann als Kalkül auch gerechtfertigt sein; andererseits ist Garcias preisgekrönter falscher Schlüsselroman „La meilleure part des hommes“, auf den ich hier anspiele, genauso wenig ein gelungenes Werk wie dessen angesagtes Lehrbuch „L’image“, das ich kürzlich bei einem Philosophiestudenten aus dem Regal zog, für erwachsene Menschen neue Ideen enthält
Aus all diesen Gründen ist es aber auch besonders absurd, aus dem netten Abdellah Taïa einen schwulen Befreiungskämpfer machen zu wollen. Und deshalb auch mein kleiner Kommentar vorgestern, denn weltbewegend ist das nun wirklich alles nicht.