Die Figur des „schwulen Nazis“ wurde vom antifaschistischen Widerstand und den deutschen Exilschriftstellern geboren und ist offenbar nicht totzukriegen – genug Grund also, in diesem Blog einen Blick auf Jonathan Littels „Die Wohlgesinnten“ zu werfen.
Vorweg: Ich habe zwar einige hundert Seiten, aber nicht den ganzen Roman gelesen. Damit sind wir gleich beim Thema: Muss das Buch so umfangreich sein? Ich meine: nein, muss es nicht, und eigentlich ist es schade, denn das wird viele Leser abschrecken. Die Leistung des Romans liegt meines Erachtens darin, eine bestimmte Szenerie lebendig werden zu lassen, und man kommt bald an den Punkt, an dem man zwar weiteres, aber nichts anderes mehr erfährt. Da die Fakten, auf die sich Littel bezieht, ohnehin allesamt bekannt sind, hätte ein gutes Drittel des Umfangs vollkommen ausgereicht. Ich habe Verständnis für das Bedürfnis, diese Epoche flächendeckend aus dieser Perspektive zu erzählen, aber ein solches Bedürfnis spielt literarisch natürlich keine Rolle.
Der Verlag schaltet inzwischen Anzeigen, in denen die ausgesprochen widersprüchlichen Besprechungen der „Wohlgesinnten“ zitiert werden. Das Spektrum reicht von Kitsch und Pornografie über die Vermutung, hier solle das Morden der Mörder erklärt werden bis zur These, es handele sich um einen „hohen, moralistisch reflektierenden Roman“. Einerseits ist das alles ziemlicher Unsinn, andererseits ist diese Widersprüchlichkeit ein Armutszeugnis der deutschen Literaturkritik, das seinerseits fast ebenso erschütternd ist wie der Roman und im Feuilleton unbedingt thematisiert werden muss: Es ist vollkommen undenkbar, dass professionelle Urteile über Schuhe, Autos, PC-Software oder Architektur auf ähnliche Weise auseinander klaffen könnten. Das Feuilleton entlarvt sich hier als eitle Meinungsschmiede ohne seriöse Kriterien. (Und Dennis Scheck verhaspelt sich in der deutschen Sprache, wenn er sagt: „Nichts weniger als ein Meisterwerk“, wo er „nicht weniger“ meint … Aber über andere herziehen!)
Im Gegensatz dazu ist Littel zweifellos ein „Profi“, wenn auch vielleicht kein großer Dichter. Sein Roman ist auf der Ebene von Hochhuths „Der Stellvertreter“ anzusiedeln, auch dieses Theaterstück ist keine große Kunst, dafür ebenfalls von großer Wirkung gewesen. Wer sich in der umfangreichen Bibliothek der Literatur zum Nationalsozialismus umschaut, findet Enthüllungen wie den „Stellvertreter“, Geschichten zum Widerstand und zu den Hintermännern und Opfergeschichten. Wir können also nachlesen, was geschehen ist und welche Leiden es verursacht hat. Littel erzählt, wie es geschehen ist, allerdings nicht, wie es möglich war – die psychologische Dimension wird äußerst selten kurz markiert und ist dabei immer misslungen. Er will nicht erklären, „warum die Mörder morden“ (NZZ), ihn an diesem Maßstab zu messen macht keinen Sinn.
Die erste Leistung Littells besteht darin, eine Perspektive gefunden zu haben, aus der heraus er genau das schreiben kann, was er schreiben will. Nur in der rückblickenden Täterperspektive kann er sich ganz auf die reinen Abläufe konzentrieren: ohne die Kommentare und Bewertungen, die ein auktorialer Erzähler vornehmen müsste, und ohne die psychologischen Verwirrungen, die bei einer Schilderung, die im Präsens die laufenden Ereignisse begleitet, unvermeidbar wären. Max von der Aue hat all das vor langer Zeit erlebt und er hat es überlebt, die Wogen haben sich längst wieder geglättet. Zwischen den Taten, die bekannt sind, und den moralischen Bewertungen, die ebenso bekannt sind, findet Littell das – erstaunlicher Weise! – noch jungfräuliche Terrain der Prozessabläufe eines terroristischen Staates. Indem er sich auf dieses Thema beschränkt, gewinnt seine Darstellung die unbedingt wünschenswerte Vergleichbarkeit zu anderen Unrechtsregimen, nicht zuletzt zu Guantano Bay und Abu Ghraib. Er verweist zu Beginn des Russlandfeldzugs diskret auf Conrads „Herz der Finsternis“, auch das ebenso simpel und wirkungsvoll wie die Wahl der Erzählperspektive. Das Reich von „Kurtz“ alias Himmler beschreibt er mit einer Lebendigkeit, die den Leser anhaltend in Bann schlägt und die für den in der einschlägigen Sachliteratur nur mäßig Belesenen immer wieder zu aha-Erlebnissen führt. Indem er die menschliche Dimension nicht berücksichtigt und diesen Verzicht nicht wiederum literarisch inszeniert, ist das genau genommen Trivialliteratur, aber seine Erzählkunst und sein großes Geschick bei der Aufbereitung des Materials macht es immerhin zu einem „Meisterwerk der Trivialliteratur“. Im Sinne der Poetologie Stanislaw Lems, Science Fiction ermögliche es ihm, sich auf den Kern seines Themas zu konzentrieren, weil alle Herleitungen etc. in fiktiven Zukunftswelten im Hauruck-Verfahren bewerkstelligt werden können, ist es sogar möglich, dass er ganz bewusst in vielen Personenzeichnungen auf Versatzstücke zurückgegriffen hat: das ist nicht sein Thema, „Kitsch“ erfüllt für sein Schreiben die gleiche Funktion wie die fiktive Zukunft für Lem. Ob ein solches Verfahren gerechtfertigt ist, erweist sich daran, was ihm zu „seinem Thema“ zu sagen gelingt. Ich meine: Littell seien solche „Abkürzungen“ erlaubt.
Aber warum, bitte sehr, ist Max von Aue schwul? Ist er überhaupt schwul? Wenn die Verbindung „schwul“ und „Nazi“ nicht bereits so belastet wäre (s.o.), würde ich diesen Aspekt ganz einfach vernachlässigen, da Aue ohnehin keine ausgearbeitete Person darstellt. Ich verweise nur kurz auf die Darstellungen dieses Phänomens: (1) Jörn Meve: „Schwule Nazis“, Männerschwarm 1990, vergriffen; (2) Alexander Zinn: „Die Bewegung der Homosexuellen“, in: Grumbach: „Die Linke und das Laster“, Männerschwarm 1995, und natürlich (3) „Männerphantasien“ von Theweleit, der Littell übrigens in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besprochen hat. Deutsche Autoren und Journalisten im Exil haben den empörenden Versuch unternommen, dem Ausland die Verwerflichkeit der Nazis dadurch zu demonstrieren, dass sie sie mehr oder weniger kollektiv als „schwul“ bezeichnet haben; noch vor der „Machtergreifung“ scheiterte bekanntlich die geplante Abschaffung des § 175 im Dt. Reichtag, weil die SPD sich dieses Argument gegen die SA/ Röhm erhalten wollte. In der Nachkriegsliteratur erwies sich dieses Klischee als ausgesprochen langlebig (s. Gary Schmidt, „Koeppen Andersch Böll“, aber auch spätere Autoren bis hin zu Elfriede Jelinek mochten die „Schwulen Nazis“).
Und nun Max von Aue. Er hält gern den Arsch hin und träumt – jetzt sind wir bei Heinrich Heine im Streit gegen Platen – von endloser Scheiße, die sein Klo überflutet und ihm den Sack beschmutzt. Das ist so abgeschmackt wie oberflächlich, letztlich wohl ebenso ein Versatzstück wie viele andere Figuren auch – dies umso mehr, als Littell auf die deutliche Präsenz von Schwulen bei der SS ansonsten überhaupt nicht eingeht. Soll Aue das „deutsche Volk“ symbolisieren, das sich passiv hinlegt, weil es von den Nazis so schön durchgefickt wird? (Das wäre immerhin eine zeitgemäße Weiterentwicklung von Thomas Manns Tonsetzer Leverkühn!) Es ist zu befürchten, aber im Grunde egal. Hier wie in der Schilderung des Auftakts der Massenmorde (die ersten Leichenberge, denen Aue begegnet, sind „Altlasten“ der russischen Volkskommissare) ist Littells Wurstigkeit in Details ärgerlich wenn nicht ideologieverdächtig. Es wird sich jedoch wahrscheinlich nur um einen Marketingtrick handeln (wie auch beim enormen Umfang, der allein für sich Aufmerksamkeit schafft). Ich hätte mich gefreut, wenn der Autor unter anderen in dieser Frage sorgfältiger gewesen wäre, aber das ändert nichts daran, dass „Die Wohlgesinnten“ ausnahmsweise einen wirklich aufschlussreichen Beitrag zur Gegenwartsliteratur darstellt.
„Die Wohlgesinnten“ des Titels sind übrigens die Eumeniden des Aischylos.
Mythologischer Exkurs: Orest hat die Mutter erschlagen, weil die den Vater erschlagen hatte. Als Muttermörder wird er von den Furien/ Erinnyen gejagt, den alten Rachegöttinnen. Am Ende der „Orestie“ kommt es zu einem Prozess, der zugleich die Gründung der Stadt Athen zur Folge hat; jedenfalls besänftigt Pallas Athene die Erinnyen und macht sie zu den Schutzgöttinnen Athens, sie verlieren die Rechte der Rachegöttinnen und sind nun die „Wohlgesinnten“ sprich Eumeniden.
Aue ist alledings schon während der laufenden Ereignisse in den Augen (ich glaube, von Thomas) ein „Orest“, das ergibt das Bild, dass seine Mittäterschaft Ausdruck des von-den-Erinnyen-Gejagtseins ist. Sind die Juden dann die Mutter, die Vater Jesus ermordet haben? sehr komisch!
Wir sollten anfangen, mit den Begriffen sorgfältiger umzugehen und uns nicht von Heterosexuellen (Schriftstellern/Verlegern) deren Definition unterschieben lassen!
homosexuell = von aussen betrachtet
schwul = aus eigenem Willen und unverklemmt
Wir sollten auch nachdrücklich darauf hinweisen, dass Homosexualität ALLEN Menschen zusteht, nicht nur DEN Schwulen oder Homosexuellen. Sie wird auch von vielen anderen genutzt.
Ich werde mehr und mehr skeptisch über diese von dir angesprochene Unterscheidung, Thommen. Ich kenne viele Männer, die sich als „schwul“ bezeichnen, weil sie einen eigenen Lifestyle haben, der ganz auf ihre Homosexualität ausgerichtet ist und genauso viele Männer, die sich als „bisexuell“ bezeichnen, weil sie mit beiden Geschlechtern sexuellen Verkehr haben, aber man kann diesem Paradigma der sexuellen Identität bei diesem Modell ja nicht entkommen, man muss sich ja immer wieder wenn man „nur“ homoerotisch veranlagt ist, wie auch immer das sich nun ausdrückt, abgrenzen, „ich bin aber nicht schwul und so…“ Diese Modelle, Homosexualität und Heterosexualität, sind Begriffe eines Medizindiskurses des 19. Jahrhunderts und meiner Meinung nach ziemlich veraltet. Dass sie dazu noch, wenn man nach Judith Butler geht, die heteronormative Matrix ständig aufrecht erhalten, kommt noch dazu. Man sollte die Sexualität von jeglicher Identität und gesellschaftlicher Zensur befreien, und dann können sich vielleicht die Menschen, die Identität mit ihrer Sexualität eng verbinden wollen, dafür entscheiden….
So, hatte jetzt aber gar nichts mit dem Blogthema zu tun, na ja, trotzdem interessant darüber zu diskutieren…
Zu Litell: Ich glaube, die meisten Menschen nehmen das Buch zu ernst. Es ist ein postmodernes Buch, das provoziert und das Dritte Reich mit Tarantiono-Ästhetik vermischt…ich finde es interessant, weil nötig, aber bestimmt nicht anbetungswürdig.
Nötig? Blanchot schreibt sinngemäß – ich zitiere aus dem Gedächtnis: „Die Toten rufen den Lebenden aus ihren Gräbern zu: ‚Schweigt!‘ und die Lebenden müssen dieses Schweigegebot wieder und wieder übertreten; sie dürfen es aber nie überhören.“ Warum soll wohliges Suhlen im fremden Blut nötig sein? Oder vielmehr: Für WEN soll es, bitte schön, nötig sein?
Das ist hier nicht als „Diskussionsbeitrag“ gedacht, sondern als Statement.
Auch wenn der voranstehende Beitrag ein Statement ist, stellt er Fragen. Die einfache Antwort: Wenn die Toten den Lebenden verbieten wollten, aus der Vergangenheit zu lernen bzw. sich überhaupt erst einmal damit auseinander zu setzen, wären sie doppelt zu betrauern. Blanchot ist aus naheliegenden Gründen kein Sprecher der Toten; pathetische Posen wie die zitierte helfen nicht viel.
Noch einmal: die Lebenden reden über die Lebenden; ohne die Toten gäbe es das Thema nicht, aber Littells Thema – das hoffe ich zumindest – sind nicht die Toten, und auch nicht ihr Blut.
Um das nicht misszuverstehn, es handelt sich bei obigem Zitat nicht um eine billige Betroffenheitsfloskel. Was Blanchot hier so pathetisch ausdrücken möchte: Wenn man über solch ein Thema schreibt, dann doch bitte mit einem Minimum an literarischem Bemühen und nicht in der Form leichtverkäuflicher Instantware. Und was, um Himmelswillen, soll man aus einem improvisierten, reißerischen Trivialroman mittlerer Güte denn schon lernen, was man nicht schon wüsste?
Noch ein Wort. Das Interview, das Littell in Berlin Cohn-Bendit gegeben hat – hier in der französischen Originalfassung: http://www.arte.tv/fr/art-musique/1949898.html – ist in jeder Beziehung bestürzend. Außer den Binsenweisheiten, dass, insofern in jedem Biedermann ein potentieller Mörder steckt, diktatorische Regimes – und ganz besonders Kriegsschauplätze – ein geeignetes Milieu für sadistische Triebabfuhr sind, dass das Miterleben (oder Mitansehen) einer Vergewaltigung auch den nettesten Zeitgenossen genital und auch sonstwie in Versuchung führen kann, und dass andererseits ein Romänlein schließlich bloß ein Romänlein ist, hat uns der alberne Knabe nichts mitzuteilen. Es sind dies Dinge, die schon vor langen Jahrzehnten mit anderem Einsatz abgehandelt wurden – ich erinnere hier nur an die seinerzeit von den Sittenwächtern indizierte (und von Blanchot geradezu enthusiastisch begrüßte) „pornographische“ Novelle Château de Cène mit ihrer fast unerträglichen Vergewaltigungszene, in der Bernard Noël seine traumatischen Erlebnisse als Soldat während des Algerienkriegs verarbeitet hat, und natürlich an Pasolinis Film Salò.
Mit Ausnahme seltener Glücksfälle ist der Autor meistens banaler als sein Buch. In meinem Blogeintrag berichte ich im Grunde von einem „Selbstversuch“: ich habe „Die Wohlmeinenden“ mit den allergrößten Vorbehalten gelesen und habe Dinge darin gefunden, die ich nicht erwartet habe. Andererseits war ich überaus froh, dass Littell keine Ergründung der Motive der Täter versucht. (Vielleicht versucht er es, aber diese Passagen nehmen nur sehr geringen Raum ein und sind im Verhältnis zu der von mir beschriebenen „Leistung“ des Romans unwichtig und zudem so platt, dass sie per se uninteressant sind.) Ich bin ganz ernsthaft der Auffassung, dass ein Roman auch dann verdienstvoll sein kann, wenn er mehr oder weniger große Schwächen aufweist. Niemand kann alles. Falls es an diesem Roman etwas Reißerisches gibt, dann sind es allenfalls die Vermarktung durch die Verlage und die Reaktionen der Presse. Der Roman selbst ist wohl eher unterkühlt.
Wenn es darum geht, einen „schwulen Nazionalsozialisten“ literarisch aufzubauen, dann ist das genauso fragwürdig, wie das verklemmte Kameradentum der Neonazis von heute! Ich erinnere daran, dass es ein deutscher Schriftsteller war, der die Sozialdemokratie für ihre antischwul-antifaschistischen Aktionen kritisierte!
Genauso wenig kann es uns gleichgültig sein, wenn neue negative Synonyme mit dem Wort „schwul“ verbunden werden.
Die Problematik ist übrigens auch im Zusammenhang mit „Jüdischsein“ bekannt!
Ich erinnere auch an das Buch „Knabenliebe“ von Frank Goyke, der das schon mit dem Negativbild eines „Pädophilen“ durchgezogen hat!
Ich wiederhole mich: Es kommt sehr drauf an, ob eine Bezeichnung eine Fremdzuschreibung darstellt, oder ob sie etwas ist, was der Protagonist von sich selber darstellt!
Vor allem wenn es um „schwule“ Nazis geht, die es nie gegeben hat, höchsten homosexuelle, verklemmte Nazis! Und das wurde auch in den letzten Jahren an Beispielen belegt. Eine Schwulenbewegung ist erst nach den Naziionalsozialisten entstanden!
Ganz zu schweigen, wenn Medien und Öffentlichkeit sowas dann zur Allgemeingültigkeit erheben…
Zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass der Begriff homosexuell historich der undefinierten Normalität beigesellt wurde und die „Heterosexualität“ erst nachher „formuliert“ wurde.
Jede Zeit hat ihre Bezeichnungen, die weder projektiv noch nach rückwärts angewendet werden sollten!
Sorry, aber die ganze Gender- und Queer-Diskussion liegt noch immer mehrheitlich in den Händen von Frauen, die ganz andere Kriterien ansetzen. Dürfen SIE auch. Müssen WIR aber nicht! 😉