Boris von Brauchitsch ist ein Schelm. Sein Roman „Alles wahr“ beginnt mit den Worten: „Das Ende dieser Geschichte …“ und endet mit: „aber das, was ich entziffern konnte, war ein Anfang.“ Ich will nicht so gemein sein, hier die Handlung zu verraten, nur soviel: es geht um Diebe, um Kunst und um Fälschung, und zwar um Fälschungen jeder Art. Man bekommt (zu Recht) den Eindruck, dass diese Fälschungen auch in die Geschichte selbst eindringen, und so stellt ein Rezensent auch fest, zum Schluss stelle sich die Frage: „Was war denn nun eigentlich?“ Ganz offensichtlich geht es im Roman u.a. darum, dass sich diese Frage im richtigen Leben nicht immer eindeutig beantworten lässt, aber das ärgert den rezensierenden Leser: „Der Kriminalfall wird zwar gelöst, alle Fragen nach dem weiteren Schicksal der Hauptfigur bleiben aber ungelöst.“ Er folgert messerscharf: „Eine Fortsetzung wäre denkbar – und wünschenswert.“ (Leo 3/08)
Ich bin noch nicht Blog-erfahren genug um zu wissen, ob ich jetzt einfach „Kreeeiiiisch“ schreiben darf, aber eigentlich möchte ich das gern. Offener Schluss, hallo? Noch nie gehört? Sie mögen „Vom Winde verweht“ fortsetzen, meinetwegen auch gleich zweimal, denn schließlich ist „das weitere Schicksal“ von Scarlet völlig ungelöst. Es gibt Frauen, die Harry Potter und Figuren aus dem „Herrn der Ringe“ private Sexskapaden andichten, weil die Frage nach ihrem Sexualleben völlig ungelöst ist, das alles darf man, aber mal ernst – muss man das? Und wenn ja: wann darf man dann aufhören? Erst beim Tod der Hauptfigur, beim Tod der Kinder der Hauptfigur (falls hetero)? Ich denke, in der Literatur wie im richtigen Leben gibt es doch Epochen, in denen ein Schicksal erlebt wird, und dieses Schicksal ist im günstigen Fall von allgemeinem Interesse. Goethe hat uns die Geburt von Faust ja nicht aus Bosheit vorenthalten – wen interessiert das schon?
Ich würde gern wissen, ob es dem Autor Brauchitsch gelungen ist oder nicht, eine solche Schicksalssequenz angemessen in den Blick zu nehmen, oder nicht. Dass es „auch weitergehen könnte“, kann nun wirklich kein Argument zur Qualität eines Buches sein, oder?
Liebe Johanna,
Du hast mich ja mehr oder weniger dazu verdonnert, eine Stellungnahme im Blog zu schreiben, weil mir das Ende des Romans nicht passt, aber damit kein falscher Eindruck entsteht, muss ich erst mal sagen, dass der Roman mich begeistert, und warum:
Das Leitmotiv von Wahrheit/Echtheit und Lüge/Fälschung taucht nicht nur in den Hauptsträngen der Handlung in offensichtlicher Weise auf mehreren Ebenen auf (die Kunstfälschung, Erinnerungsfälschung, Irreführung …) sondern auch in kleinen Rand-Szenen und Beobachtungen: wenn die Rückseite des T-Shirts der Kellnerin eine Frage nach dem „image duplicator“ stellt, Rebecca sich als „Schaf im Wolfspelz“ entpuppt, Berentz eine Wahrheit preisgibt, um eine größere Lüge dahinter zu verbergen, wenn Venedig wie Disneyland erscheint usw. Das erinnert mich an die „Fraktale“ der Chaos-Theorie – bis in die kleinsten Verästelungen wird ein Formprinzip eingehalten, was eine ungeheure Schönheit und Dichtheit erzeugt.
Ein anderes oder ergänzendes Prinzip ist die Paradoxie, und sie ist wiederum verflochten und verwachsen mit dem Roman als Ganzem und treibt kleine Blüten überall: das Nachtcafe, das nach dem Bild von van Gogh entstand, die Bilder, die nach Beschreibungen verlorener Bilder gemalt wurden – da musste ich an den Essay von Oscar Wilde über die Nachahmung der Kunst durch das Leben denken. Eine schöne paradoxe Szene ereignet sich, wenn Robert in die Wohnung zurückkehrt und erwartet, dass Rebecca alles auf den Kopf gestellt hat – eine Angewohnheit von ihr, die ihn vermutlich nervt, aber seine Enttäuschung ist viel größer, als er alles ordentlich vorfindet: sie enttäuscht seine Erwartungen, und das schafft „innere Unordnung“, was ihn viel mehr durcheinander bringt als die äußere Unordnung, die er gewohnt ist.
In der Sprache findet sich das Paradoxie-Prinzip in wundervoll originellen Formulierungen wieder, wie in „Beton rechts, alles auf endgültige Weise unfertig“. Ein Satz, der auch an die Fotos von Brauchitsch erinnert, die wiederum manchmal Ähnlichkeit mit kubistischen Bildern haben (auch wieder ein durchgängiges Formprinzip). Es gelingt ihm auch, sehr subtil Körperempfindungen einzufangen, so wie wenn „irgendwo in meinem Gehirn, ich hätte gesagt, ganz hinten rechts“ ein Tropfen fällt.
Dass mir das Ende bzw. der Anfang, der das Ende ist, nicht gefällt, liegt nicht daran, dass es ein „offenes“ Ende wäre; meiner Meinung ist das Ende gar nicht offen – man erfährt ja, wie das Leben der Hauptfigur weiter geht und was aus der Beziehung zu Phil wird. Mir hätte ein wirklich offenes Ende besser gefallen, aber das ist im Grunde eine persönliche Vorliebe und keine literarische Kritik. Für mein Empfinden geht die Beziehung zwischen Robert und Phil, die vom ersten Moment an spannend und geheimnisvoll ist – eine Spannung, die gehalten wird – auf so lapidare Weise zu Ende, dass es für mich nicht zu dieser Liebesgeschichte passt. Vor allem der Satz: ‚Wenn ich seinen Bericht lese, begreife ich nicht, was uns für einige Zeit zusammengeführt hat‘ stößt mich da vor den Kopf. Das kann irgendwie nicht sein – ist mein Gefühl dazu.
Wenn man es rein unter dem Gesichtspunkt der Konstruktion der Geschichte betrachtet, gibt es nichts gegen den Roman zu sagen – das Ende hat nicht meine literarischen Ansprüche enttäuscht, sondern meine emotionalen Bedürfnisse, aber vielleicht sollen solche Erwartungen ja auch gerade unterlaufen werden.
Zu Deiner Frage, ob es dem Autor gelungen ist, eine Schicksalssequenz angemessen in den Blick zu nehmen, kann ich nur sagen: Ja! Und wie! Es ist ein tolles Buch!