Ulf Erdmann Zieglers zahme Wiesen

Dylan Thomas beschreibt seine Jugend als „grün und golden“, Jourdans Jugendliche sind „Schlimme Engel“, Cocteau schreibt über „Schreckliche Kinder“, Klaus Mann zelebrierte einen „Frommen Tanz“ und in den 80er Jahren galt der Schlachtruf „Lebe wild und gefährlich“. Pathos und Euphorie waren lange Zeit bestimmend für eine Literatur, die sich der Rückbesinnung auf die schlimme Zeit zwischen dem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr widmete. Das ist nun anders, Pathos ja, Euphorie eher nicht. Im heißen Sommer der Fußball-WM in Deutschland stellte die Öffentlichkeit erstaunt fest, dass die junge Generation zwar begeisterungsfähig sei, dabei jedoch keinerlei Tendenz zu Ausschreitungen mehr zeige – ein Grad von Zivilisation, zu der sich die westlichen Gesellschaften im Grunde beglückwünschen dürfen, wäre da nicht der beunruhigende Gedanke, dass soviel Abgeklärtheit vielleicht ein wenig langweilig sein könnte. Ein kluger Mensch beschrieb den Zusammenhang von Aufruhr und Kultur am Beispiel der Schweiz: ein kleines Land, das in Frieden seinen Wohlstand genoss, während anderswo in Europa Despoten ihre Völker knechteten, doch was kam auf kulturellem Gebiet dabei heraus? Die Kuckucksuhr.

Der Buchumschlag des Romans „Wilde Wiesen“ von Ulf Erdmann Ziegler (Jg. 1959) zeigt tatsächlich ein Stück Natur, grün mit goldenem Sonnenuntergang, doch dieses Landschaftsstück ist nur ein bereits stockfleckig gewordenes Plakat auf einer Häuserwand. Es handelt sich um eine fotografische Arbeit des Autors, eine Montage von rätselhaften Versatzstücken mit allen Merkmalen des trompe l’oeil – eine Warnung also. Nach der Lektüre des Romans ist nicht ganz klar, ob der Autor vor einer hinterhältigen Verfälschung der detailliert geschilderten Ereignisse (im Stil von z.B. Hervé Guibert), oder einfach vor einer Subjektivität warnen möchte, die ihre Uneindeutigkeit zum Programm erhoben hat. Der Verlag zitiert den Rezensenten der FAZ, der Ziegler eine „ganz und gar außergewöhnliche Ich- und Weltwahrnehmung“ bescheinigt. Worum geht es also?

In zehn Kapiteln, die keiner Chronologie folgen, wirft Ziegler Schlaglichter auf wichtige Stationen seines Lebenswegs. Wege spielen tatsächlich eine große Rolle, ob sie nun im Ford Taunus des Vaters, auf dem Fahrrad, dem Motorrad oder im Saab des Freundes Willi zurückgelegt werden oder auch in der Kölner Straßenbahn der 60er Jahre. Ziegler nennt diese Erzählung eine „Autogeographie“, und damit haben wir schon einen Teil des Problems: das klingt zwar gut und stimmt auch „irgendwie“, aber um eine Landkarte des Autorenselbst handelt es sich in keiner Weise; „Biogeografie“ wäre zutreffend, aber das klingt natürlich nicht so gut. Und so ist der ganze Text von der Regel „Im Zweifel für den Effekt“ geprägt. Der liest sich durchaus kunstvoll und stellt sicher eine der Stärken des Buchs dar, auch wenn die eigentümliche Zeichensetzung die Perioden des Autors oft unschön zerhackt.

Warum nur, warum gelingt es so wenigen deutschen Autoren, einen eleganten Stil hervorzubringen, der nicht von Grund auf epigonal ist? Auch wenn bei Ziegler nicht die Mottenkugeln zu riechen sind wie beim Büchnerpreisträger Mosebach (beide Frankfurt, ob es daran liegt?), ist eine 40 Jahre alte Prosa von Hubert Fichte doch so unendlich viel moderner! Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass es sich hier wie bei anderen neuen Autoren (nicht bei Mosebach!) um eine explizite Verweigerung dem eigenen Stil gegenüber handelt. Mit ironischer Attitüde die Vorväter zu zitieren schafft genau jene Distanz zur Außenwelt, von der ganz offensichtlich auch die Lebenseinstellung des Autors geprägt ist. Man könnte etwas polemisch zitieren: „Sich verbergen und sich zeigen, man will beides mit elf Jahren“, ein Satz Zieglers, der sich auf das Duschverhalten des jungen Ich-Erzählers bezieht, in einer Situation, in der ein älterer Junge vor ihn hintritt, seinen „Stecken“ betrachtet und „seinen Kumpels lachend zu verstehen (gab), was er gesehen hatte.“ Die Unappetitlichkeit des Vorzeigens wird wenig später noch einmal angesprochen, ein fremder Mann zeigt dem Erzähler und seinem Freund „etwas riesiges Fleischiges, wofür wir keinen Namen wussten. Auf seine Frage, ob wir auch ‚so etwas‘ hätten, schüttelten wir die Köpfe und rannten davon. Die Leugnung, die uns zu Mädchen machte, hat mich ein paar Jahre beschäftigt, nicht weniger als die Erscheinung selbst.“

Wenn ich der Einfachheit halber bei diesen zwei Episoden bleibe, so kann man wohl unterstellen, dass der Leser gern erfahren würde, welchen Verlauf und welche Ergebnisse die Beschäftigung mit den gemachten Erfahrungen hervorgebracht hat. Leider beschränkt der Autor sich bei psychologischen Topoi auf eine äußerliche Beschreibung, ohne sie auf die Landkarte des Selbst einzutragen, ihnen eine Position und Verbindungswege zuzuweisen, die eine Autogeografie vorstellen würden. Das hat weitreichende Folgen für die Erzählung als ganzer, die wir uns wie „Buddenbrooks“ ohne Hauptfiguren denken können: Die Schauplätze und viele Nebenfiguren treten so plastisch hervor, dass man meint, man sei dort gewesen, nur findet auf dieser Bühne keine Handlung statt. Die zehn Kapitel, allesamt jenseits der Brennpunkte des Weltgeschehens gelegen (Einfeld, Tungendorf, Dorstfeld …), bieten dem Leser viele Wiedererkennungserlebnisse gerade in den banalen Dingen, was über lange Strecken ein großes Wohlgefühl beim Lesen schafft und als literarische Leistung unbedingt gewürdigt werden muss. Andererseits fühlt man sich an Oscar Wildes Beschreibung des Zigarettenrauchens erinnert: ein großer Genuss, doch er hinterlässt den Raucher vollkommen unbefriedigt. Oscar Wilde hat die vermeintliche Einschränkung sicherlich als höchstes Kompliment gemeint, stellt doch die Befriedigung das Ende einer Gefühlsbewegung dar. Nur verhält es sich mit der Literatur wahrscheinlich ein wenig anders als mit dem Konsum von Narkotika, das geweckte Interesse verlangt nach Aufschlüssen, deren Verweigerung als Frustration erlebt wird. Um den Verzicht auf Handlung zu kompensieren, bietet Ziegler seinen Lesern ein Arsenal an sprachlichen Effekten, die als literarisch unnötige Verzierungen daherkommen. Dem stilistisch wenig gebildeten deutschen Feuilleton gefällt’s, also Zweck erfüllt.

Vergleiche mit zwei Autoren, die ich in diesem Blog bereits besprochen habe, fallen mir ein. Da ist zum einen Philipp Tingler, dessen Kindheitsroman über den Titel „Fischtal“ einen „biogeografischen“ Charakter vortäuscht und sich im (sachlichen wie personellen) Ambiente erschöpft. Gegenüber Ziegler geht dieser Autor dem Leser mit einem Zuviel an Selbstbeweihräucherung gehörig auf die Nerven und man spürt, das weniger tatsächlich manchmal mehr sein kann; den Konflikt zwischen zeigen und verbergen kann Tingler sich gewiss nicht einmal vorstellen. Arnold Stadler weist mit „Komm wir gehen“ dagegen viele Ähnlichkeiten auf. Auch bei ihm stehen Erinnerungen an die Vergangenheit im Mittelpunkt des Interesses, und das Erzähler-Ich bleibt hinter diesen prallen Geschichten weitgehend verborgen. Vielleicht gilt für alle drei, dass sie am liebsten „gehen“ möchten, nach Hause nämlich, wo die Geschichten vollendet sind und als Ganze erzählt werden können, und nicht etwa nach draußen, wo eine Welt wartet. Da fällt mir doch Peter Rehberg ein, dessen durchaus autobiografischer Felix (in „Fag Love“) wieder und wieder gegen eine Welt anrennt und in ihr seinen Platz sucht; wenn er an früher denkt, dann ist es eine Anekdote über seine Mutter, die am Straßenrand stehend fälschlich für eine Nutte gehalten wurde. Seine Schriftstellerkollegen mögen vielleicht von „Wilden Wiesen“ träumen, aber die entpuppen sich schnell als der gestutzte Rasen im Garten der Eltern.

3 Gedanken zu „Ulf Erdmann Zieglers zahme Wiesen

  1. „doch was kam auf kulturellem Gebiet dabei heraus? Die Kuckucksuhr.“
    Sorry, diese Uhr wurde bekanntlich im süddeutschen Schwarzwald produziert. Und das Gebiet gehörte vermutlich mal zum Bistum Basel…

    Niemals würde ich Deutschland auf Eisbein und Sauerkraut reduzieren. Darf ich Dir einen Optiker empfehlen?
    Grüsse aus der Schweiz, Peter Thommen

  2. Lieber Peter,
    der böse Satz ist ein Zitat, auch wenn ich nicht mehr weiß, wer das gesagt hat. Neueren Datums ist die vielfach wiederholte Behauptung, Schweizer Autoren schrieben „Uhrmacherprosa“ i.S.v. komplizierter Feinmechanik, die sich evtl. im Detail verliert. Von Eurem Nationalprodukt kommt Ihr offenbar nicht los, warum auch immer. Andererseits: die Kuckucksuhr sollten nun wirklich nur ein Beispiel sein, es lag nicht in meiner Absicht, den Schweizer Nationalstolz zu kränken!

  3. Am 20.2.08 schreibt Ulf Erdmann Ziegler in „Perlentaucher“:

    Für mein zweites literarisches Buch nahm ich mir vor, autobiographische Stationen zu benennen, also ein Coming-out meiner Quellen zu betreiben. Dabei dämmerte mir langsam, dass das Material aus dem Leben der anderen (mitgehört, recherchiert, ausgesponnen, synthetisiert) sehr viel eher Literatur wird als das eigene. Über sich selbst Auskunft zu geben ist im Kern ein unliterarischer Akt. Ist man Autor eines Romans, kann man Objekte entblättern wie eine Blüte, bis das genetische Material freiliegt. Die eigene Geschichte aber ist unenträtselbar, palimpsestisch, Erinnerungen über mehrfach Erzähltem über Fotos über… Verdrängtem. So habe ich mich entschieden, den Beginn der Liebesgeschichte meiner (beiden noch lebenden) Eltern in drei Varianten aufzuschreiben, wissend, dass man „Eltern“ nicht recherchieren kann. Was aber meine Kindheitsorte auf dem windgezausten Geestrücken Holsteins betrifft, musste ich jene Exaktheit an den Tag legen, die Leser vor Ort dazu bringt, hundert Details abzuhaken und beim hundertersten zu widersprechen, jene Diszplin, der sich Autoren sogenannter regionaler Krimis ständig unterwerfen. (…)
    Was die Zukunft meiner Werkstatt betrifft, habe ich das autogeographische Material in „Wilde Wiesen“ aufgezehrt. Jedes weitere Feld des Schreibens wird also weniger ein Topos der Erinnerung als des Wissens und seiner Anverwandlung sein: Ob Morsen und Stereoton, ob Bodybuilding versus Anorexie, ob Martin Luther oder Willy Brandt. Das ist im Journalismus nicht anders: Weiß man viel, schreibt man leicht, weiß man wenig, hängt man. Nur dass die Kunst offen bleibt für Varianten, für „anders“ Memoriertes: Brian Jones war gewiss nicht der Gitarrist im Autorenduo von „Satisfaction“.

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