Kinder aus so etwas wie großbürgerlichen Familien haben es nicht leicht. Der Glaube daran, irgendwie der Umwelt überlegen zu sein, wird wahrscheinlich mit der Muttermilch aufgesogen, sobald Mama dem Baby den Silberlöffel aus dem Mund genommen hat, mit dem es geboren wurde. Aber wie geht man mit dieser Mischung aus Trotz gegen die familiäre Herkunft und dem eitlen Gefühl eigener Überlegenheit um? Philipp Tingler schreibt Bücher. Nach der Lektüre seiner fünften Veröffentlichung verfestigt sich der Eindruck, dass er nicht eigentlich etwas zu sagen hat, und zugleich verflüchtigt sich der Eindruck, dass er das wenigstens mit Anmut tut. War die Nabelschau des privilegierten Herumtreibers in „Hübsche Versuche“ in seinem leichtfüßigen Stil noch recht nett zu lesen, verwunderte seine Abrechnung mit dem Literaturbetrieb in „Ich bin ein Profi“ als etwas altkluge Literatur-über-Literatur. Zwei Bände mit Kurzprosa folgten, die nicht zu unrecht von „Feuilletons“ wie dem der Vogue in hohen Tönen gelobt wurden – die Texte wären (waren?) sicher eine Bereicherung für Wochenendbeilagen, ihre Veröffentlichung zwischen Buchdeckeln nicht unbedingt erforderlich gewesen. Die Umschläge jedes dieser vier Bücher ziert übrigens ein Konterfei des Autors; bei Fischtal wollte der Verlag das wohl zunächst vermeiden, holte es dann jedoch mit einer „Bauchbinde“ nach – ob sich da jemand beschwert hat?
Mit „Fischtal“ hat Tingler nun seinen ersten Roman vorgelegt. Er versucht, die Welt seiner Großeltern wieder aufleben zu lassen, und man ist gespannt, welches Ergebnis der Verzicht auf die beliebig zusammelgewürfelten Feuerwerke von Bonmots, die seine vorangegangenen Bücher auszeichneten, wohl hervorbringen wird. Worum geht es? Den Rahmen der Erzählung bildet der Einfall der Hinterbliebenen in das Haus der Großmutter, jeder mit einer Liste bewaffnet, welche Erbstücke er für sich selbst an Land ziehen will. Darauf folgen Impressionen aus dem Leben der Verstorbenen und schließlich aus der Jugend des Erzählers in diesem großen Haus.
Der erste Eindruck: das ist furchtbar langweilig. Wer „über den Dingen steht“, kann ihnen kein Leben einhauchen, und wer es gewohnt ist, Feuerwerksraketen abzuschießen, ist nicht unbedingt in der Lage, einen gewaltigen Scheiterhaufen anzuzünden und die Flamme am Leben zu erhalten. Dass Tingler sich stilistisch an einer Travestie Thomas Manns versucht – bis hin zu Anhäufungen sprechender Namen wie „Frau Busenrost“ oder „Beutelwitz“, „Weichbrodt“ wird gleich wörtlich übernommen -, erhöht als „uneigentliches Sprechen“ die Distanz zu seinen Gegenständen und führt nicht dazu, wie in Sulzers „Perfektem Kellner“, ein vergangenes Lebensgefühl wachzurufen. Leider unterlaufen ihm dabei zudem immer wieder Anglizismen im Satzbau und manchmal wird es ganz einfach ein wenig konfus. Weil er nach drei Zeilen das Subjekt vergessen hat, spricht er von „morschem Marmor“, oder es entstehen Phrasen wie:
· „Dieser freundlich geheuchelte Erinnerungsverlust sorgte dafür, dass Gustav in den Augen des Berliner Gesetzes einigermaßen gerechtfertigt dastand.“ (ein Verlust kann Folgen haben, aber bestimmt nicht für etwas sorgen)
· „Treppe, deren Bespannung aus himmelblauem Teppich an den Stufen von Messingstangen gehalten wurde“ (da es keine „Stufen von Messingstangen“ gibt, meint er sicherlich: „von Messingstangen an den Stufen gehalten“, wobei das so oder so nicht anschaulich ist; wer diese Art von Treppenbelag kennt, weiß zudem, dass es sich nicht um eine Bespannung handelt)
· „(Das Haus) verkörperte jene Bescheidenheit, die sich nur begnadete Verschwender überhaupt zu leisten imstande sind.“ (warum sagt er nicht, dass es oft mit immensen Kosten verbunden ist, den Eindruck von Bescheidenheit zu erwecken? und statt „zu leisten imstande“ meint er natürlich „zu leisten bereit“)
· „Das Gartenhaus, mit dem gleichen … Verputz verkleidet wie das Fischtal …“ (warum Verputz eine Verkleidung sein soll, weiß wohl nur der Autor, der sich im Nominalstil vergaloppiert hat, statt einfach zu sagen, es sei auf gleiche Weise verputzt)
· „die Malerei verkörperte für ihn nur eine Passion“ (die Verkörperung einer Passion, also Leidenschaft, ist schwer vorstellbar; man mag sein Leben einer Passion widmen oder die Passion in Taten zum Ausdruck bringen, aber ist ein Bild der Körper der Leidenschaft des Malers? Wieder einmal treibt ihn die Lust am Fabulieren übers Ziel hinaus.)
Kurzum, man muss bedauern, dass Herr Tingler offenbar nicht zu den „Verschwendern“ gehört, die Bescheidenheit zu zeigen imstande sind – es hätte dem Text gut getan!
Der Vergleich mit Detlev Meyers Familienroman „Sonnenkind“ macht schnell deutlich, wie bezaubernd die stilistische Vergoldung von Kindheitserinnerungen daherkommen kann. Niemand wird Detlev Meyer irgendwelche Anwandlungen von Bescheidenheit oder Zurückhaltung unterstellen wollen, in dieser Hinsicht gibt es viele Parallelen zu seinem jungen Nachfolger. Doch wo Meyer sich in die Figur seines Großvaters hineindenkt, liefert Tingler leider nur Abziehbilder, die sattsam Bekanntes lediglich mit einem individuellen Ambiente verzieren. Bei „Schöner Wohnen“ stünde ihm sicherlich eine große Zukunft offen. Die Aussage des Romans lässt sich deshalb in dem Satz „Wir waren reich und konnten uns jede Marotte erlauben“ zusammenfassen. Wie sich eine solche Umgebung auf die Persönlichkeitsentwicklung seines Alter Ego Gustav ausgewirkt hat, wird diskret verschwiegen, menschliche Kontakte sind in diesem Panoptikum lustiger Exoten kaum auszumachen. Im Ergebnis könnte die Sozialisation jedoch rundum erfolgreich gewesen sein.
Ich denke, das war’s dann mit Herrn Tingler. Was könnte noch kommen nach dem „Bildnis des Künstlers als junger Mann“, dem „Bildnis des Künstlers als Künstler“, dem „Bildnis des Künstlers als Enkel“ und „Bonmots des Künstlers über Gott und die Welt“? Na gut, „Der Künstler als Bodybuilder“ wäre eigentlich längst überfällig. Aber dann ist Ruhe!
Ruhe? Du bist aber ein Optimist! 😉 Uns kann höchstens trösten, dass Tingler vor allem von Heterosexuellen gelesen wird – oder täusche ich mich da?
Dem ersten und letzten Drittel des Beitrags stimme ich voll zu, die Kritik an Tinglers Sprache wirkt allerdings kleinkariert und an den Haaren herbeigezogen. Das Hauptproblem des Buches ist vielmehr, dass es wie ein billiger Zeichentrickfilm wirkt – die Figuren heben sich in ihrem Handeln zu deutlich von den vorgezeichneten Hintergründen ab, man sieht die Montage und ist enttäuscht. Dass Tingler dabei seinem Roman keinen roten Faden bietet, ist schade.
Mit sprachlichen Missgriffen befasse ich mich in der Regel nur dann, wenn der Autor offensichtlich von der Brillanz seiner Ausdrucksweise sehr überzeugt ist. Und da ich pauschale Hinweise, wie sie bei Rezensenten beliebt sind, nicht mag, wird es dann leider kleinkariert. Vielleicht lerne ich ja noch, wie man das besser macht. Andererseits denke ich nicht, dass Romane per se einen roten Faden brauchen, solange es andere „Bindemittel“ gibt.