Nein, nicht über den Kannibalen soll hier geschrieben werden. Es geht vielmehr um ein Buch über denselben (dies ist ja schließlich eine Literaturseite) – den, der das Städtchen Rotenburg an der Fulda in die Schlagzeilen brachte: Armin Meiwes, den Menschenfresser. Es geht um Günter Stampfs „Interview mit einem Kannibalen“. Man liest, dieses Interview sei das erste, das der Kannibale über seine Tat und deren Hintergründe gebe, und meint doch sofort, sich zu erinnern: Waren da nicht seinerzeit auch Reportagen im „Spiegel“, im „Focus“? Ja, Meiwes wurde auch damals bereits zitiert, aber vielleicht waren es ja dennoch keine Interviews. Aber wir wollen ja nicht kleinlich sein. Immerhin ist es dem Autor und Geschäftsführer der Medienproduktionsfirma Stampfwerk, dem ehemaligen BILD- und BUNTE-Redakteur, Günter Stampf, gelungen, sich die weltweiten Exklusivrechte an Meiwes‘ Geschichte für deren „seriöse Dokumentation und weitere mediale Auswertungen“ zu sichern, wie er auf seiner website mitteilt.
Ungefähr ein Dutzend Male lässt Stampf uns in seinem Buch wissen, wie sehr er unter der Arbeit daran gelitten hat, gequält von Albträumen, mit rebellierendem Magen und grausigen Tatfotos vor Augen. Wir erfahren aber auch, warum er dies für die Leser tat: um die „dunkle Seite des Internets ans Licht zu bringen“ (S. 225) und den Kannibalen seine Warnung vor seinesgleichen aussprechen zu lassen.
Ja, dieser Autor wagt sich für uns in die Höhle des Löwen und fasst das Entsetzen, das den politisch und kulturell korrekten Leser zu packen hat, in Worte: „Der Kannibale – mitten unter uns“ (S. 267). Dabei ist er doch einer von uns (der Herr Stampf, nicht der Herr Meiwes), denn wer von uns würde nicht auch wie dieser Journalist bei einem Teller „Strammer Max“ sofort eine Assoziation zu bestimmten sich versteifenden Körperteilen haben, wer hat nicht als Kind ebenfalls ein Lieblingskaninchen „Foffi“ oder ähnliches auf tragische Weise verloren und ist darüber dennoch nicht zum Mörder geworden und welcher Leser würde schon gestehen, dass er in der Kindheit etwa gemeinsam mit dem älteren Bruder onaniert hätte? In Herrn Stampfs Kindheit kam letzteres jedenfalls nicht vor, wie er versichert, wobei er sich allerdings weitergehender Wertungen zu diesem Thema enthält. Das wiederum überrascht angesichts dessen, dass ihm solche Enthaltsamkeit, die möglicherweise ja Ausdruck journalistischer Professionalität sein könnte, bei anderen Details nicht gelingt, in welche ihm Meiwes Einblick gewährt. Die Fotos, die der Kannibale vom Schlachtvorgang und den tischfertig bereiteten Körperteilen seines Opfers geschossen hat, nennt Günter Stampf unverblümt eine Sauerei (S. 114). Das musste ja mal gesagt werden, falls nicht jeder gute Christenmensch von allein darauf gekommen wäre. Dass es Herrn Stampf an entsprechenden Einsichten nicht fehlen kann, kann man bereits anhand der Empfehlungen erahnen, die er gegen das Alleinsein gibt, damit dieses nicht auf so kruden Wegen ende, wie sie Meiwes gegangen ist: die Bibel lesen, Goethe, Shakespeare oder Stephen King. Zur Not helfen auch Orchideenzucht oder die Spielzeugeisenbahn (S. 127). Der bibelfeste Autor gibt uns von jedem Kapitel zum nächsten Sprüche aus dem Alten oder Neuen Testament mit auf den Weg – genau das, was man in einem Buch über einen Kannibalen ja auch als erstes erwartet.
Auf den Weg gemacht, nämlich zum Haus des Kannibalen, haben sich damals, als die Sache ans Licht kam, neben Dutzenden von Fernsehteams auch ungezählte Horrortouristen – sehr zum Ärger der Nachbarn, wie Günter Stampf voller Verständnis für Letztere erzählt. Und damit man sich auch ja nicht irre, welches Haus gemeint sei, gibt er auf die Sekunde genau dessen geographische Länge und Breite an, auf dass man vielleicht erst mal am PC einen Blick aus der Satellitenperspektive darauf werfen kann, bevor man entscheidet, ob der Weg dorthin lohnt.
Hübsch und – wie ich wirklich einräumen muss – durchaus von literarischer Raffinesse getragen: der Bogenschlag mit dem Taxifahrer. Derselbe, der Herrn Stampf zu seinem ersten Interview mit dem Kannibalen fährt, holt ihn auch zufällig bei seinem letzten von dort ab. Sei es drum. Vielleicht erheben derlei Kunstgriffe dieses Werk ja nicht nur von der nackten Reportage in die Nähe von richtiger Literatur; nein, vielleicht vermögen sie ja die schwere Kost auch ein wenig aufzulockern, wie beispielsweise die Schilderung des von Stampfscher Hand gegossenen Gummibaumes der Justizvollzugsanstalt. Ansonsten würde dem Leser dieses Buch möglicherweise allzu schwer im Magen liegen.
Offenbar hat Stampf ein schlechtes Buch geschrieben, das zwischen Voyeurismus und Abscheu hin und her pendelt – solche Veröffentlichungen sind nach solchen Großereignissen wohl unvermeidlich, ich bin schon gespannt auf „Marco W. und seine vorzeitige Ejakulation“ oder ähnliche Kunstwerke im nächsten Jahr. Das ist traurig (und natürlich macht es Spaß, den Blödsinn vorzuführen), aber eigentlich ist das Thema Kannibalismus selbst wichtiger als Herr Stampf, der „Mampf“ gewissermaßen. Wenn Meiwes „krank“ ist, was ist dann seine „Krankheit“? Der Wunsch, Menschen verspeisen zu wollen, oder der Kontrollverlust, einen solchen Wunsch auszuleben? Wir können kaum hoffen, dass die öffentliche Dabatte dieses Falles nur halbwegs das Niveau des Problems erreicht. Deshalb kleiner Hinweis: Walter Foelske hat in seinem Roman „Eiszeit“ mit großer literarischer Wucht eine Art „Meiwes“ porträtiert, ein Roman, der auf den Magen schlägt.