Als Lektor bin ich begeistert, wenn ein Buch, das noch gar nicht ausgeliefert wurde, schon drei überaus positive Rezensionen erhält – in den Märzblättern wird Anneke Scholtens Roman „Abel“ einhellig abgefeiert. Wir haben lange gezögert, ob wir dieses Buch auf Deutsch herausbringen sollen, denn schließlich ist die Erzählperspektive gar nicht schwul: Ein junger Hetero erinnert sich daran, wie sein bester Schulfreund schüchterne Annäherungsversuche gemacht und wie er selbst darauf reagiert hat (panisch). Die Perspektive ist neu, die Geschichte uralt: fast jeder junge Schwule verliebt sich im Coming-out erst einmal in den besten Freund. Dass dieses ewige Drama nun einmal anders herum erzählt wird, und vor allen: wie spannend Anneke Scholtens das macht, hat uns schließlich sagen lassen: ja, wir versuchen es – und jetzt freuen wir uns darüber, dass die ersten Leser, denen wir Druckfahnen geschickt haben, das auch so sehen. So weit, so gut.
Andererseits empfindet der Lektor allen Büchern und Autoren gegenüber wie eine Mutter – es soll ihnen gut gehen, und man liebt das schwierige Kind ebenso wie den Überflieger. Unser Verlagsprogramm setzt sich aus beidem zusammen. Und als Mutter kann man den Erfolg des einen nicht genießen, ohne sich traurig an den Misserfolg des anderen zu erinnern. Was ankommt, ist das große Gefühl, das mutige Experiment bleibt leider oft auf der Strecke.
Man muss wohl davon ausgehen, dass die Menschen, die regelmäßig Bücher lesen, inzwischen eine besondere Spezies Mensch sind. Eine Spezies, für die Bücher zum Leben dazugehören, und die deshalb regelmäßig den Fernseher ausschalten und ihre eigene Fantasie anspornen lassen. Wenn das so ist, wundere ich mich darüber, dass diese Leser so beharrlich in festen Gleisen fahren möchten und das Ungewöhnliche nicht als Anreiz, sondern vor allem als Irritation erleben. Ich kenne einige „professionelle“ Leser persönlich, Rezensenten der Monatsblätter, Lektoren und Lektorinnen der Taschenbuchverlage. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich nach ein wenig Abwechslung lechzen, aber für die meisten von ihnen gilt das selbe Patentrezept wie für alle Leser: Großes Gefühl, eine dramatische Entwicklung, etwas Humor zwischendurch, konventionelle Erzählweise.
Auch ich bin ein professioneller Leser, und ich tue mein Bestes, um ein abwechslungsreiches Angebot zusammen zu stellen. Aus meiner Sicht ist die Auswahl dieses Angebots trotz aller Abwechslung aus einem Guss: Lebensnahe Geschichten, die neue Sichtweisen auf vertraute Lebensbereiche eröffnen (deshalb auch „Abel“!), die das Leben nicht „schönlügen“ und sprachlich dem gewählten Stoff gerecht werden bzw. gerade durch die Art der sprachlichen Darstellung neue Zugänge zum Thema finden. Wenn Gregorio Ortega Coto in ganz kleinen Erzählungen die großen Träume kleiner Menschen aufspießt, finde ich das elektrisierend, wenn Peter Rehberg mit protzigem Pathos ein schwules Universum schafft, wenn Walter Foelske wortgewaltig die Angst zu überwinden versucht, von verbotenen Sehnsüchten zu sprechen, oder wenn Christine Wunnicke zwei auf unterschiedliche Weise versponnene Menschen aufeinander treffen lässt, dann ist das alles für mich große Oper, ich lasse mich bei der Hand nehmen und in fremde Lebenswelten entführen, die ich mit staunenden Augen betrachte. In einigen der genannten Fälle scheint es sich allerdings mehr um mein Privatvergnügen zu handeln, und das macht mich ratlos. Und jetzt kommen nach und nach die neuen Kinder aus der Entbindungsstation, und ich wieder einmal voller Hoffnung, dass die lieben Kleinen es dieses mal schaffen werden.