Nein, nicht schon wieder klagen. Dass wieder ein Verlag es nicht fertig bringt, den zentralen schwulen Aspekt eines Buches auch in die Ankündigung und auf den Klappentext zu schreiben. Diesmal will ich mich freuen – darüber, dass ich dieses gut getarnte Buch trotzdem entdeckt habe: Alexander Häussers Roman „Karnstedt verschwindet“ – erschienen bei Knaus. Wie ich es entdeckt habe? Das letzte Buch von Häusser hatte mir auch schon gefallen …
Am Anfang des Romans steht das Ende. Karnstedt ist verschwunden. Etwa zwanzig Jahre nach Abitur, nachdem es einen Bruch gegeben hat zwischen ihm und Simon, dem Erzähler der Geschichte. Karnstedt hatte immer eine Macht ausgeübt auf Simon, die diesen fasziniert und auch erschreckt hat. Mit seinem Verschwinden erlangt Karnstedt nach zwanzig Jahren diese Macht über Simon zurück. Er zwingt ihn durch ein Vermächtnis, sich auf seine Spuren zu begeben, sich an die gemeinsame Schulzeit zu erinnern und sich so der ganzen Katastrophe, die damals zwischen ihnen abgelaufen ist, zu stellen.
Karnstedt ist Außenseiter, wird gehänselt und sogar gequält. Simon hält zu ihm. Die beiden Jugendlichen sammeln Fossilien, interessieren sich für ferne Inseln. Im Kiosk der Mutter entleihen sie sich Simon und Karnstedt Hefte und Zeitschriften, die ihren Träumen die Stoffe geben. Als Forscherpaar sehen sie eine großartige Zukunft vor sich, entwickeln auch romantische Gefühle füreinander. Solche Träume gab es auch schon in Häussers Erzählung „Zeppelin“. Irgendwo festsitzen und in die Welt hinaus wollen – diese Erfahrung treibt den Autor. „Es muss die traumatisierende Erfahrung der Provinz sein, die mir da in den Knochen steckt“, erklärt er sein Interesse an solchen Konstellationen, das Interesse an Karnstedt und Simon, „und der Enge, um das Thema weiterzuführen, der Enge im Kopf, die ich, der ich schon lange nicht mehr in der Provinz lebe, oftmals immer noch spüre. Diese Enge im Kopf zum Beispiel in der Beziehung, nicht mehr nach den Sternen zu greifen, nicht mehr nach den Sternen greifen zu wollen, sich bescheiden zu wollen. Die beiden wollen nach den Sternen greifen. Die wollen die paar Rätsel, die es auf der Welt noch gibt, lösen. Sie sind prädestiniert dafür. Sie können es noch schaffen. Das ist der Punkt, wo das Ganze einsetzt, die Rückschau, diese entscheidenden Wochen vor dem Abitur, da könnten sie es im Grunde noch schaffen.“
Sie haben es nicht geschafft. Und Simon wird noch einmal mit den Gründen konfrontiert. Ein merkwürdiges Gefühl hatte sich bei Simon schon eingeschlichen, als Karnstedt ihm zum Geburtstag eine Goldkette mit einem Bernsteinhänger schenkt: nicht gerade ein typisches Geschenk von Junge zu Junge. Dann gibt es eine Klassenfahrt, und irgendetwas muss da geschehen sein! Als dann das Wort vom „schwulen Freund“ die Runde macht, trifft ihn das „wie ein Hammer“. Und dann gibt es auch noch einen Toten. Die Freundschaft, die Simon bis dahin genossen hat, erscheint plötzlich in einem anderen Licht. „Dieser Schock, als diese Festlegung kommt, Karnstedt ist schwul, dieser Schock kommt eigentlich alleine von dieser Außensicht“, so erklärt Häusser den Schock Simons: „Es bricht eine Außenwelt ein in die Innenwelt von Simon und in die gemeinsame In-nenwelt von beiden, die wie nein Schlag für ihn ist. Diese Erkenntnis, für andere ist das ja dieser Begriff. Er hätte es anders benannt. Oder er hat es die ganze Zeit vielleicht gar nicht benannt. Es war eine Form von Gemeinsamkeit, von Liebe, von Zärtlichkeit – der hat das mit dem Begriff gar nicht verbunden. Und dann wird interpretiert. Im Nachhinein wird interpretiert.“ Simon will nicht schwul sein. Was im Erleben große Gefühle waren, wird im Nachhinein zum Ersatz, was der Traum vom gemeinsamen Forscherleben war, wird zum falschen Ziel. Simon verrät die Gemeinsamkeit mit Karnstedt, Karnstedt ist aber nicht nur Opfer.
Simon bekommt, anders als Bart in Anneke Scholtens Roman „Abel“ (Achtung Werbung: erscheint bei Männerschwarm), wenig Gelegenheit, sich schuldig zu fühlen. Im Gegenteil: Nach und nach bekommt er die Gewissheit, was Karnstedt damals alles veranstaltet hat, hat er allen Grund, zu erschrecken, wütend auf den Freund zu werden. Denn dieser „Zauberer“ hat sich ganz schön in sein Leben eingemischt, teils aus Liebe, um ihn an sich zu binden, teils um sein Ego zu befriedigen oder um Rache an seinen verhassten Mitschülern zu nehmen.