Karl May revisited

Im Antiquariat habe ich gerade „Weihnachten im Wilden Westen“ von Karl May wiederentdeckt, ein zu Unrecht viel zu unbekanntes Werk des großen deutschen Volksschriftstellers, und damit wurden unglaubliche Erinnerungen wach: Wie ich im zarten Alter von 10 Jahren die Grundschule verließ und Frl. Godejohann, meine Klassenlehrerin, mir zum Abschied dieses Buch geschenkt hat. Damals fand ich das blöd und hätte viel lieber den „Ölprinz“ oder „Durchs wilde Kurdistan“ gelesen, aber als ich es dann Jahre später wieder las, war das ganz anders. Von der Germanistik als „Höhepunkt der Trivialliteratur des 19. Jhdts.“ klassifiziert, kann man an diesem Werk lernen, wie effektiv sich falsche Gefühle in der Literatur vermarkten lassen. Man stelle sich vor: ich habe Tränen geweint, obwohl mir völlig klar war, dass gerade die Verlogenheit des Schreibens diese Gefühle auslöste.Wer „Sitara und der Weg dorthin“ von Arno Schmidt gelesen hat, weiß alles über die geheimen homosexuellen Wünsche Mays und die Mechanismen, wie diese Wunschvorstellungen sich gegen seinen Willen immer wieder Bahn brechen („neben dem übel riechenden Höhleneingang lehnte eine Riesentanne nach links geneigt an der Felswand“ – Arno Schmidt kommentiert böse: wo es sich anders verhält, notiert der Schneider: trägt rechts). Solcherlei findet man auch hier zu Genüge, außerdem innige Männerfreundschaften aller Art, aber das Besondere an „Weihnacht“ ist die Art und Weise, wie May sich selbst darstellt: der „echte“ Karl wird als Studienfreund abgespalten, der lügt und stiehlt, so wie es der Lehramtskandidat May seinerzeit getan hat, er selbst dagegen ist ein edler Held, der sich mit dem Schreiben gefühlvoller Gedichte den Spitznamen „Sappho“(!) eingehandelt hat. Und so, wie Thomas Mann mit Aschenbach einen Teil seiner selbst in Venedig sterben lässt, stirbt auch Mays Alter Ego, ausgerechnet zu Weihnachten im Wilden Westen – und Winnetou hält seine Hand, während „Sappho“ das grauenhafteste aller Weihnachtsgedichte aufsagt und damit selbst den roten Bruder zu Tränen rührt.
Über die Hamburger Kabarettistin Frau Emmi wird gesagt, ihre Auftritte seien wie ein Verkehrsunfall, einfach schrecklich, aber man müsse hinsehen. So ergeht es einem mit diesem Buch, aber bei all dem hat es auch sein Gutes: Die Verlogenheit ist so hochdosiert, dass sie immun macht, immun gegen die ganze falsche Gefühligkeit neuerer Autoren. Das funktioniert so, dass man wie bei einer Impfung zunächst auf den Gefühls-Virus reagiert und leicht „erkrankt“, ja, die Dramatik macht ergriffen! Doch ganz allmählich regt sich das Immunsystem, man fühlt sich schmutzig und kommt dem abgekarteten Spiel auf die Schliche. Und in Zukunft merkt man dann nach zehn Seiten, dass man eingeseift und für dumm verkauft wird, und das war mir diese Lektüre allemal wert!
Übrigens: ich wäre neugierig, ob mir jemand ein „gutes“ Buch nennen kann, bei dem er Tränen geweint hat – das ist mir nämlich noch nicht passiert.

3 Gedanken zu „Karl May revisited

  1. Sorry, aber so sehr ich für die Existenz schwuler Literatur notfalls kämpfen würde – aber Karl May als unbewußter Schwuler ist so plausibel wie der schwule Paulus. Man kann es postmodern hineinlesen – aber „drin“ ist’s noch lange nicht. (Auch ne Bildsprache hier, verzeihung). Dazu empfehle ich mutig die Karl-May-Biographie von Schmidt-Schüler Wollschläger zu lesen, bzw. mal den ein oder anderen Karl May-Band mehr 🙂 Sonst ist es ein leichtes aus Moby Dick einen ejakulierenden Dicken zu machen („Dick“ ist im Englischen ja eh eindeutig), aus Pinochio einen hölzernen Dauerständer und aus Aragorn den erst spät wieder potentwerdenden Altershelden (ein zerbrichens Schwert? Das erst wegen der Liebe einer Frau und einer zu kämpfenden blutigen Schlacht wieder einsatzbereit ist? Na wenn das mal kein Zeichen ist…)

    Will sagen: In Abenteuerromanen sind Höhlen im 19. Jahrhundert durchaus angebrachte Schauplätze – oder um mit Hans Conrad Zander zu argumentieren: Warum wird man wohl Briefträger? („phallisch fixiert stecken sie die Finger in tausend fremde Schlitze“) 😉

    Ob hingegen Arno Schmidt in den Romanen etwas fand, was er aus seinem eigenen Leben hineinlas… das wäre eine andere Frage 😉

    Und so wie ich von Freunden lernte, dass man bewußt entscheiden kann „schwul auszugehen“, so kann man sicherlich auch May mal „schwul lesen“. – Aber dass das die „richtigere“ Lesart sei möcht ich bezweiflen.

    Amüsierte Grüße =)
    T.

  2. Ich freue mich sehr, dass sich hier offenbar ein echter May-Fan zu Wort meldet – bisher kenne ich tatsächlich keinen Menschen, der sich für diesen Autor interessiert. Ich denke, in Lebensläufen aus dem 19. Jahrhundert kann man nur schwer mit den heutigen Begriff Homosexualität arbeiten, aber schwul gelesen wurde Karl May tatsächlich von Anbeginn an. So wurden viele seiner Buchumschläge von dem offen schwulen Künstler Sascha Schneider gestaltet, der sicherlich seine Gründe hatte, sich besonders für diese Romane zu interessieren. Im einzigen kleinen Bildband Schneiders findet man auch nicht verwendete Illustrationen, u.a. von einem nackten Winnetou mit wehenden Haaren, das ist schon schaurig-schön.
    Letztlich stellt sich bei Karl May zumindest dieselbe Frage wie bei vielen seiner Zeitgenossen, wie nämlich eine hochtransformierte, hochemotionale Männerfreundschaft zu interpretieren sei. Schon vor Arno Schmidt stellte der Amerikaner Paul Elbogen die These auf, May sei ein „unterschichtiger Homosexueller“. Solche tiefenpsychologischen Deutungen haben natürlich alle miteinander gemein, dass sie sich nicht beweisen lassen. Ich finde, es ist ganz einfach eine hübsche Vorstellung, dass ebenso, wie die großen Epen der heterosexuellen Liebe im Hollywood-Kino von schwulen Schauspielern inszeniert wurden, ganze Generationen junger Leute ihr Männlichkeitsbild von einem zumindest stark homoerotisch geprägten Romanwerk bezogen haben. Was Karl May mit wem getan oder nicht getan hat, ist mir dabei ziemlich egal.

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