Der umtriebige schwule Autor Joachim Helfer wurde im Rahmen eines deutsch-arabischen Kulturprojekts dem libanesischen Autor Rashid-al-Daif als Austauschpartner „zugemutet“, was al-Daif so irritiert hat, dass er ein Tagebuch seiner Erlebnisse umgehend in seiner Heimat veröffentlichte. Für die deutsche Ausgabe dieser Außenwahrnehmung („Die Verschwulung der Welt“) wurden Kommentare Helfers beigefügt. al-Daif ist für arabische Verhältnisse ein aufgeklärter Intellektueller, der sich, wenn man Helfer glauben darf, nicht die Bohne für die europäische Kultur interessiert, über keinerlei Kenntnisse der europäischen Geschichte verfügt und nicht im Traum auf die Idee käme, die Existenz einer eigenen, anderen Wertorientierung europäischer Christen in Betracht zu ziehen. Für ihn ist ein Mann, den schwangere Frauen nicht in Begeisterung versetzen und auch sonst weibliche Menschen kaum beachtet, eine Art Monstrum. Wie kann es sein, dass Helfer nicht das Bedürfnis verspürt sich fortzupflanzen? Andererseits löst die pure Tatsache, Umgang mit einem homosexuellen Mann zu haben, eine große Verwirrung aus: da Helfer schwul ist, könnte es immerhin sein, dass er den Kollegen sexuell begehrt, und das bringt das männlche Selbstbild al-Daifs durcheinander – er könnte ja zum Objekt, also zur Frau herabgewürdigt werden. Dass in Deutschland Frauen von Männern umworben werden und selbst entscheiden, ob sie sich auf eine nähere Bekanntschaft einlassen oder nicht, kann Helfer dem Kollegen immerhin verständlich machen, wenn auch mit großer Mühe.
Auf der Frankfurter Buchmesse habe ich eine Podiumsdiskussion mit Ralf König und Volker Reiche erlebt, dem Cartoonisten der FAZ. Ich war ziemlich schockiert, wie plump und selbstsicher Reiche immer wieder darauf herumritt, dass die Araber gefälligst lernen sollen, sich wie moderne Menschen zu benehmen, es gehe hier nicht um einen Wettbewerb der Kulturen, sondern um die ärgerliche Rückständigkeit der einen Seite. So etwas sagt man eigentlich nicht. Nach der Lektüre der „Verschwulung der Welt“ bin ich jedoch ernsthaft verunsichert, wie man sich gegenüber erwachsenen Menschen verhalten soll, die sich auf eine Weise aufführen, die man in Europa allenfalls bei pubertierenden 15jährigen erwarten würde. al-Daifs Bericht ist eine selbstbewusste Auskunft über sein Weltbild, und er lässt keinen Raum für Interpretationen.
Ich komme mir ein bisschen so vor wie nach dem Fall der Mauer, als die DDR-freundliche Linke erfahren musste, dass es „Drüben“ im Wesentlichen wirklich so gewesen ist, wie die rechten Hetzpolitiker behauptet hatten. Nun behaupten die Araber zwar nicht, aufgeklärte oder kultivierte Menschen zu sein, aber man wollte doch gerne glauben, dass die Vernünftigen unter ihnen, die in der Regel die schweigende Mehrheit ausmachen, es schon sein werden. Jetzt komme ich mir vor wie ein Raumfahrer bei Stanislaw Lem, der am Ende einer Reihe von kommunikativen Misserfolgen zur Erde zurückkehrt in der traurigen Gewissheit, dass verschiedene Spezies sich nun einmal nicht verstehen können. Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist das ein eigenartiges Gefühl. Ich halte trotz bzw. gerade deswegen dieses kleine Taschenbuch für eine ungeheuer wichtige Veröffentlichung, obwohl man davon ausgehen muss, dass bei diesem Titel die großen Feuilletons es gar nicht oder viel zu spät entdecken werden.
Ich halte das Buch für einen kleinen aber wesentlichen Beitrag zur längst fälligen Diskussion von Schwulen mit der heterosexuellen Kultur! Im Gegensatz zur Frauenbewegung wurde die Schwulenbewegung von den Heteros nie ernsthaft als Diskussionspartner/Bewegung akzeptiert.
Nachdem nun ein Drittel der User auf schwulen Plattformen Heteros oder „bi“ sind, wäre diese Auseinandersetzung längst fällig. Es ist auffällig, wieviele Heteros ihre „homosexuelle Jugendphase“ plötzlich mit 35, 40 oder gar 50 „nachholen“ wollen! Während Schwule immer wieder Frauenbeziehungen hatten und haben, tun sich die Heteros sehr schwer mit „Männerbeziehungen“!
Die Knackpunkte der Rollenvorstellungen werden in dem Buch einigermassen sichtbar und diskutierbar.