„Lutra Lutra“ heißt Matthias Hirths neuer Roman, und Lutra Lutra ist die zoologische Bezeichnung des Fischotters, der 1999 zum Tier des Jahres erkoren wurde. Der Roman spielt tatsächlich in den Jahren 1999 und 2000, hat aber darüber hinaus mit Fischottern wenig zu tun. Mein Titelvorschlag wäre gewesen: „Wie ich zum Arschloch wurde“ – da klingt „Lutra Lutra“ natürlich besser. Matthias Hirth hat ein ungewöhnliches Buch geschrieben, ein sehr dickes Buch von 730 Seiten, ganz gewiss kein Buch für schwache Nerven – und ein Buch, das zum Streiten einlädt.
Wer einen netten Schmöker sucht, sollte den Roman nach dem dritten der fünf Teile zuklappen: Die Dramaturgie des Ganzen besteht nämlich in einer kontinuierlichen Steigerung abscheulicher Verhaltensweisen des Protagonisten. Fleck, eigentlich Fleckenstein, ist Anfang dreißig und lebt vom Erbe seiner Großmutter. In Teil I („Party“) beendet dieser Fleck sein „Schneckenhausdasein“ und beginnt mit Streifzügen durch Kneipen und Parties einer ungenannten Stadt. Die Kapitel beginnen oft mit so etwas wie Kurznachrichten: „König Hussein von Jordanien ringt mit dem Tod. Anhaltende Spekulationen über seine Nachfolge verschärfen die Sorgen um die politische Stabilität im Nahen Osten. …usw.“ Der Autor hat offenbar Döblins „Berlin Alexanderplatz“ gelesen, doch anders als dort sind diese Nachrichteneinblendungen reine Randverzierungen ohne erkennbaren Bezug zur Handlung oder auch nur zum Innenleben der Hauptfigur. Falls sie etwas zu bedeuten haben, dann zeigen sie allenfalls, dass dem Helden die Probleme der Außenwelt am Arsch vorbeigehen.
Auf jeden Fall ist Fleck ein Mann ohne Eigenschaften, und das scheint ihm zu gefallen. Er lässt sich einfach treiben, und jeder will ihn kennenlernen, jeder will mit ihm ins Bett. Fleck scheint das recht zu sein, aber im Grunde ist es ihm wohl ebenso egal wie der Tod des Königs von Jordanien. Da nichts so attraktiv macht wie Gleichgültigkeit, „Coolness“, macht ihn seine Ziellosigkeit, verbunden mit einer gewissen körperlichen Attraktivität, schnell zu so etwas wie Society’s Pet. Ein Programm, wie der Klappentext suggeriert („Wie erreicht er die Ausstrahlung, die ihn für jede Frau und jeden Mann unwiderstehlich macht?“), verfolgt er dabei nicht.
Es stellt sich schnell heraus, dass Fleck in Kreisen verkehrt, in denen er vielen Schwulen begegnet. Warum das so ist, bleibt ein Geheimnis, denn Fleck versteht sich offenbar nicht als schwul. Was ihn nicht daran hindert, sich von einem Schwulen nach dem andern abschleppen zu lassen. Trotzdem redet oder denkt über über „die“ Schwulen, vergleicht sie mit hübsch eingepackten Pralinen in einer Schachtel und nimmt Anstoß, wenn eine Person eine „schwule“ Handbewegung macht. Die Beschreibungen der schwulen Szene, die immer mehr zum eigentlichen Szenario des Romans aufsteigt, gehören in ihrer Treffsicherheit streckenweise zu den Highlights des Romans. Keine Frage: Hirth kann schreiben, aber ich habe nicht so recht herausbekommen, was er eigentlich sagen will.
Die Liste dessen, was er alles nicht sagen will, ist dagegen lang:
* Weshalb Fleck das Interesse an allem anderen als seinen nächtlichen Streifzügen verloren hat,
* wodurch Fleck in die beneidenswerte Lage versetzt wurde, bedenkenlos sowohl mit Frauen wie mit Männern zu schlafen,
* weshalb er im Laufe des Romans die Kontakte zu Frauen einstellt,
* was ihn eigentlich an „den“ Schwulen reizt, zu denen er sich erst ganz zum Ende des Romans irgendwie zugehörig fühlt,
* weshalb er so hingebungsvoll an Ritualen teilnimmt, deren Sinnlosigkeit und Hässlichkeit er längst durchschaut hat.
Dass Fleck geistreich und scharfzüngig über die Szene herzieht, hindert ihn nicht daran, bei allem vorbehaltlos mitzumachen. Manche werden sich vielleicht noch an die Romane eines Peter Hofmann erinnern, der seine Szenekritik mit einer ins gottgleiche gesteigerten Selbstwahrnehmung verband, was schnell ermüdend wirkte. Nein, dieser Fleck ist nicht besser als die anderen.Was man aber nicht so recht versteht: warum denkt er überhaupt so viel über all das nach? Er selbst kommt ja mit allem gut zurecht. In ihrer Abgehobenheit erinnern seine Reflexionen deshalb auch immer wieder an Schulfunk oder Vorträge in der Volkshochschule.
Es ist ganz aufschlussreich, Fleck mit Will aus Alan Hollinghursts „Schwimmbad-Bibliothek“ zu vergleichen; auch Will ist ein finanziell unabhängiger Nichtstuer, dessen Lebensweise im Verlauf der Handlung jedoch in mehrerlei Hinsicht auf die Probe gestellt wird. Hollinghurst stattet Will mit einer realen Umwelt aus, mit Menschen und Situationen von eigenem Recht, mit eigenen Merkmalen und Eigenschaften, die Will dazu zwingen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Von Flecks Bekannten und Fickkumpeln bekommt der Leser dagegen nur den Teil ihrer Oberfläche zu sehen, für die sich Fleck gerade interessiert. Fleck entscheidet, was mit wem läuft, und auch, was nicht. So endet ein One-Night-Stand mit dieser unschönen Szene:
„Kann ich wirklich nicht bei dir bleiben?“
„Nein!“
„Warum denn nicht?“
Fleck riss der Geduldsfaden.
„Mein lieber Willi. Diese Welt ist ohne Wärme, du weißt es, ich weiß es, traurig, aber so ist es nun mal. Du Armer! Dich mag keiner. Und weil dich keiner mag, mag ich dich eben auch nicht.“
„Warum sagst du das?“, rief Willi kindlich verletzt wie ein Fünfjähriger, „natürlich mögen mich Leute!“
„Kann sein. Trotzdem macht es Spaß, ein bisschen auf deiner Seele rumzutrampeln. Schade, dass wir im Bett nicht mehr daraus gemacht haben. So, und jetzt raus. Arme Menschen müssen weiterziehen, bis sie jemand genauso Armes gefunden haben.“ (497f)
Nachdem sich Fleck auf diese Weise eine zeitlang herumgetrieben hat, entschließt er sich, es mit der Liebe zu versuchen; „Liebe“ ist der Titel des II. Teils des Romans. Er versucht, seinem Freund Felix treu zu bleiben, doch schon bald kommen andere Männer dazu, und Felix wird ohne weiteres sitzengelassen. Im III. Teil, „Der Narr“, ist Fleck dann tatsächlich selbst der Dumme: Er verliebt sich in den Russen Jenia und will einfach nicht begreifen, dass der ein Stricher ist – was er rückblickend später eigenartiger Weise aufs schärfste verurteilt, wenn er sich vorwirft, sich im Dreck gesuhlt zu haben. Im III. Teil fängt Fleck an, sich für die Frage zu interessieren: „Was würdest du tun, wenn du etwas Böses tun wolltest?“ Andere Männer, denen er diese Frage stellt, wissen keine befriedigende Antwort darauf. Fleck gerät daraufhin in eine surrealistische Kunstszene, in der Verstöße gegen die guten Sitten zum Programm gehören. Der IV. Teil trägt den Titel „Das böse 2000“. Fleck nimmt sein aus dem I. Teil bekanntes Partyleben wieder auf; der Roman zeigt deutliche Längen. Allerdings mischt sich mehr und mehr eine gewisse Morbidität in seine Unternehmungen, die im V. Teil dann vollends bestimmend wird: „Die fünfte Jahreszeit“ ist ein Showdown, der einen starken Magen und gute Nerven verlangt. Um die Spannung nicht zu zerstören, möchte ich davon nicht allzuviel verraten. Als Fleck schließlich einem der Opfer seiner rücksichtslosen Lebensweise in die Hände fällt, fühlt man sich an „Clockwork Orange“ erinnert. Anders als dort deutet Fleck diese bedrohliche Situation jedoch zu einer Art Katharsis um, die ihm vielleicht die Möglichkeit bietet, danach als neuer Mensch ein neues Leben zu führen.
Ich muss sagen, mich hat dieser Roman einigermaßen ratlos zurückgelassen. Auch Burgess‘ Gewaltorgien sind oft abstoßend zu lesen, sie werden jedoch in einem sachlich wie sprachlich extrem verfremdeten Rahmen gewissermaßen ausgestellt. Demgegenüber gibt Hirths Sprache in „Lutra Lutra“ eine Menge Rätsel auf. Ja, es ist eine schöne Sprache, sie war eindeutig der wichtigste Grund, weshalb ich das Buch zuende gelesen habe – aber in welchem Verhältnis steht sie zur Hauptfigur und zur Handlung des Romans? In ihrer Eleganz erschien sie mir zunehmend wie die falsche Unschuld Dorian Grays, der seine moralische Hässlichkeit abgespalten und auf dem Dachboden eingeschlossen hat. Der autochthone Erzähler, über den der Leser nichts erfährt, erlebt die sich ins immer Brutalere steigernde Handlung ebenso unbeteiligt wie sein Protagonist Fleck – das heißt: weder identifiziert er sich mit dem Geschehen, noch reagiert er erschrocken darauf. Zur Erinnerung: in seinen Beschreibungen des New Yorker Nachtlebens lässt Peter Rehberg in „Play“ und „Fag Love“ die Brutalität der Stadt von der Sprache seines Erzählers Besitz ergreifen, sie ist ebenso ruppig und kulturlos wie das Geschehen, das sie schildert. Dagegen klingt „Lutra Lutra“, als rede Gott, ein entrücktes Wesen ohne Eifer und Zorn – keinesfalls ein Gott, der gerade mit Luzifer eine Wette über seinen „Sklaven Fleck“ abgeschlossen hat. Denn die hätte er wohl verloren.
Nachtrag: Es ist bemerkenswert, dass der Verlag Voland und Quist sich eines so wenig „marktgängigen“ Romans angenommen hat. An „Lutra Lutra“ werden sich die Geister scheiden – ich freue mich, dass auch andere Verleger Spaß daran haben, ein wenig Leben in die Bude zu bringen. Ich wünsche „Lutra Lutra“ viele verstörte und hoffentlich auch viele begeisterte Leser.