Michel Foucaults Schriften liegen in Deutschland zum Teil als sinnloses Kauderwelsch vor, und weder der Suhrkamp Verlag, noch das Feuilleton interessiert sich dafür. Was ich durch Zufall herausfand, habe ich aus Anlass von Foucaults 30. Todestag seinem deutschen Verlag mitgeteilt. Als keine Antwort kam, habe ich die hier folgende Sammlung beliebiger Textstellen der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen und der Zeit zugeschickt: keinerlei Antwort. Am 30. September ist der Namenstag des Hl. Hieronymus, des Schutzheiligen der Übersetzer. Wer gute Übersetzungen will, muss schlechte anprangern.
Bitte sehr:
Michel Foucaults Karriere begann im Jahr 1966 mit der Veröffentlichung von „Les Mots et les Choses“, einer „Archäologie der Humanwissenschaften“, die 1971 in der Übersetzung von Ulrich Köppen auf Deutsch erschien. Diese Übersetzung wird bis zum heutigen Tag in immer neuen Auflagen vertrieben. Damals war kaum abzusehen, welche Bedeutung dieser Autor eines Tages erlangen würde, und so scheint der Verlag dem Übersetzer freie Hand gelassen und darauf vertraut zu haben, dass es mit seiner deutschen Fassung schon seine Richtigkeit haben würde. So entstand eine Übersetzung, die weniger an Hieronymus, sondern eher an Johan Balhorn denken lässt. Werfen wir einen Blick in das 9. Kapitel:
Köppen schreibt (K): mit dem Wiedererscheinen der Sprache in einem multiplen Gewimmel kann die Ordnung des klassischen Denkens in der Folge verwischen
Ich lese (B): mit der Wiederkehr der Rede in reicher Vielfalt hat das klassische Denken seine Bedeutung verloren
K: Dabei dürfte man noch nicht einmal von Dunkelheit sprechen, sondern von einem etwas verdüsterten, fälschlicherweise evidenten Licht, das mehr verbirgt, als es offenbart
B: Trotzdem kann man nicht von Verdunklung sprechen; wir erblicken es vielmehr in diffusem Licht, das falsche Eindrücke vermittelt und mehr verbirgt, als es sichtbar werden lässt:
K: Aber das klassische Denken nur an solchen Zeichen wiederzuerkennen, heißt seine grundlegende Disposition zu verkennen; heißt völlig die Beziehung zwischen solchen Manifestationen und dem zu vernachlässigen, was sie möglich machte.
B: Aber das klassische Wissen lediglich anhand dieser Merkmale zu beschreiben bedeutet, seinen grundlegenden Aufbau zu verkennen; es bedeutet, den Zusammenhang zwischen diesen Erscheinungsformen und ihren Voraussetzungen vollständig zu ignorieren.
K: Und wie soll man letzten Endes (wenn nicht durch eine mühsame und langsame Technik) die komplexe Beziehung der Repräsentationen, der Identitäten, der Ordnungen, der natürlichen Wesen, der Wünsche und der Interessen von dem Augenblick an wiederfinden, wo jenes große Netz sich auflöst, wo die Bedürfnisse ihre Produktion für sich selbst organisiert haben, wo die Lebewesen sich auf die wesentlichen Funktionen des Lebens zurückgezogen haben, wo die Wörter als Schwere ihre materielle Geschichte erhalten haben, kurz, von dem Augenblick an, wo die Identitäten der Repräsentation aufgehört haben, ohne Verschwiegenheit und Rückstand die Ordnung der Wesen zu offenbaren?
B: Denn wie sollte man auch (anders als durch mühsame und langwierige Arbeit) die komplexen Beziehungen zwischen den Vorstellungen, Identitäten, Ordnungen, Worten, Naturerscheinungen, Begierden und Interessen rekonstruieren, nachdem ihr großes Netzwerk zerstört wurde; seitdem organisieren die Bedürfnisse eigenständig ihre Befriedigung, die Lebewesen ziehen sich auf ihre elementaren Lebensfunktionen zurück, die Worte werden durch ihre Bedeutungsgeschichte erdrückt – kurz gesagt, die Vorstellungsinhalte haben aufgehört, die Ordnung des Seins entschlossen und restlos zum Ausdruck zu bringen.
K: alle die von den Wörtern und dem Diskurs, von den Merkmalen und der Einteilung, von den Äquivalenten und dem Warentausch eingeführten Schikanen werden jetzt aufgehoben, so dass es schwierig ist, die Weise wiederzufinden, auf die jene Gesamtheit hat funktionieren können. Das letzte „Stück“, das herausgesprungen ist – und dessen Verschwinden das klassische Denken für immer von uns entfernt hat – ist eben der erste jener Raster: der Diskurs, der die initiale, spontane und naive Entfaltung der Repräsentation in einem Tableau gestattete.
B: all die Streitereien über die Verwendung der Worte, die Rangordnung der Eigenschaften, über Werte und Handel sind längst vergessen, sodass es schwierig ist herauszufinden, wie dies alles im Zusammenwirken funktionieren konnte. Das letzte „Bruchstück“, das verlorenging – und dessen Verschwinden uns für immer vom klassischen Denken trennt –, ist ausgerechnet der wichtigste Teil der Matrix: die Sprachregelung, die die ursprüngliche, spontane, naive Verbreitung der Vorstellungen zu einem Tableau ermöglichte.
Soweit eine Blütenlese der ersten zwei Seiten des 9. Kapitels. Ich habe die deutsche Ausgabe daraufhin beiseitegelegt und zum französischen Original gegriffen, das zu meiner großen Überraschung in sehr klarer und leicht lesbarer Diktion verfasst ist. Natürlich hat mir die Lektüre der Köppen-Übersetzung viel Vergnügen bereitet – meine Lieblinge sind das „fälschlich evidente Licht“ und die durch Äquivalente eingeführten Schikanen. Doch wenn man bedenkt, dass es sich hier um einen der Grundpfeiler im Werk eines überaus einflussreichen Sozialphilosophen handelt, vergeht einem das Lachen. Man fragt sich, wer wohl diese Übersetzung redigiert haben mag, bevor sie gedruckt wurde. Wer entschieden hat, leicht zu übersetzende Fachausdrücke wie Diskurs, Repräsentation, Disposition etc. unübersetzt zu lassen (wie auch die „chicanes“, die im Deutschen mit „Schikanen“ leider nur einen „falschen Freund“ haben, wie Übersetzer solche vermeintlich naheliegenden Entsprechungen nennen). Und welche der Zehntausende von Käufern, die diese Übersetzung erworben haben, sie dann gelesen und verstanden haben. Wer hielte einen Autor nicht für wahnsinnig, der formuliert, dass „die Wörter als Schwere ihre materielle Geschichte erhalten haben“, oder dass „die Identitäten der Repräsentation aufgehört haben, ohne Verschwiegenheit und Rückstand die Ordnung der Wesen zu offenbaren“? Und was soll man von Wissenschaftlern halten, und von den Rezensenten, die ein solches Machwerk denjenigen, die es ihnen zumuten, nicht schleunigst um die Ohren hauen?
Nachdem sich weder Verlag noch Feuilleton für meine Hinweise interessierten, vermute ich nun, dass ich vielleicht gar nicht der erste bin, der auf diese Missstände hinweist. Wenn die Presse ihrer Pflicht nicht nachkommt, ist das Publikum machtlos.
Vielen Dank für diesen Text! Ich begrüße Deine Kritik an Foucaultübersetzungen sehr! Sie ließe sich weiterführen. Und beträfe dann nicht nur Köppen (und nicht nur Foucault). Aber tatsächlich liegt gerade bei dem von Dir Herangezogenen allerhand im Argen. Mir schwante schon vor vielen Jahren Unheil, als ich durch Zufall bemerkte, dass Köppen im Borges-Zitat des Vorwortes ausgerechnet „j) innombrables“ einfach wegglässt. Es hat also schon einen Grund, warum ich, obwohl ich doch gar nicht richtig Französisch kann, beim Lesen von Foucaulttexten manche Stellen lieber anhand des Originals überprüfe – „das zu meiner großen Überraschung in sehr klarer und leicht lesbarer Diktion verfasst ist“, wie Du so richtig sagst. Ich stimme Dir auch zu, dass sich über die einzele Sinnentstellung oder Sinnerschwerung hinaus die Frage stellt, was solche Übersetzungen bei der Rezeption wohl angerichtet haben. Vielleicht hat manche Ablehnung Foucaults ja auch mit Leserfahrungen zu tun, die nur Unverständliches vermittelten? Während umgekehrt manche Zustimmung gar nicht dem tatsächlich Gesagten, sondern der Aura des Nebulösen und Erratischen galt? Jedenfalls wäre wünschen (gewesen), Foucault hätte im deutschen Sprachraum so kenntnisreiche und vernünftige Übersetzung wie Dich (gehabt) Oder wenigstens so abweichlerische wie mich, der ich immer rate, im „Willen zum Wissen“ „Sex“ (frz. „sexe“) probehalber durch „Geschlecht“ zu ersetzen, was überraschenden Erkenntnisgewinn verspricht. – Dass Suhrkamp nicht reagiert, ist eine Schande.
„Auch Bücher haben ihre Schicksale, sagt man und denkt an Mäuse, Diebe und Zensoren. Bücher, die die Grenze passieren, erleben ein weiteres Schicksal, das der Übersetzung. Manche der großen Strukturalisten hatten schwere Übersetzungs- oder richtiger Übersetzerschicksale. Foucault zum Beispiel, dessen „Ordnung der Dinge“, die deutsche Übersetzung von Les mots et les choses, von schweren, den Sinn entstellenden Fehlern strotzt, ohne dass der Verlag bis heute, vier Jahrzehnte später, eine Revision unternommen hätte.“ (Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014, S. 71 f.)
Was für die Übersetzungen AUS dem Französischen gilt, gilt auch für die INS Französische. Diese Erfahrung macht man als Leser geisteswissenschaftlicher Werke schon sehr früh. Oft hängt es schlicht damit zusammen, dass es Arbeiten sogenannter Fachübersetzer sind, die vor lauter Fachwissen kaum mehr richtig übersetzen können. Es steckt allerdings noch viel mehr dahinter, nämlich: ein grundsätzlich falsches Bild vom anderen Land. Jedenfalls gelingt es mit Leichtigkeit, das, was in der Ausgangssprache klar und einfach formuliert wurde, in der Zielsprache zu Bombast zu verquasen. Man spürt geradezu den Nebel, aus dem das Fremde, jenseits der Grenze Vermutete, erst ganz allmählich hervortritt, ja hervortreten SOLL. Gerade auch der im Original durchaus klare Deleuze leidet unter solch romantischen Wunschvorstellungen – in der Übersetzung, doch nicht nur. Was aus einem wie Klossowski gemacht wurde, will ich gar nicht wissen; aber auch nicht, wie dessen eigene Versionen deutscher Dichter und Denker aussehen.
Es ist schon eine Weile her, dass ich bei Schérer/Hocquenghem im Seminar saß, doch ich erinnere mich noch lebhaft, wie der Husserlübersetzer René Schérer einmal ausgiebig mit Georges Lapassade über das deutsche Wort „Schwelle“ sinnierte. Jemand war über eine Schwelle getreten, und den beiden war klar, dass da ein Anschwellen, eine Turgeszenz, zu bemerken sei. Sie kamen schnell bei den Schwellkörpern an. Jawohl, jede deutsche Pforte scheint einen Schwellkörper unter sich zu haben, und jeder Schwellkörper über sich eine harrenden Pforte, so trächtig raunt es durch die Sprache der Germanen, und so schnell befinden sich nicht allein Heideggerianer auf dem Holzwege. (Dieses Werk wird übrigens nicht nur mit „Chemins qui ne mènent nulle part“ übersetzt, sondern auch, quasi ein Geniestreich, mit „Chemins de bois“.) Es war wohl Begeisterung, was die Nähe zum „seuil“ ihrer Muttersprache verhüllte – und mithin den gemeinsamen Ursprung. Mein Freund Markus und ich waren die einzigen Deutschen im Saal, wir amüsierten uns, doch mischten uns nicht ein. Es wäre auch sinnlos gewesen, denn so leicht lassen Philosophen sich nicht enttäuschen. Kurz zuvor war Adorno in den Seminaren angekommen – etwas spät, aber immerhin – und wir hatten ein paar Versuche unternommen, über dessen Stil und Wirkung im Heimatland auch nur ansatzweise aufzuklären. Es gelang uns nicht. Bis auf den heutigen Tag gelang es mir nicht, an Deutschland interessierte Franzosen davon zu überzeugen, dass die ersten Nachkriegsgenerationen wenn, dann nicht Heidegger oder Gadamer, sondern Wiesengrund mit der Muttermilch aufgesogen hatten und es geraumer Zeit bedurfte, bis dieser Jugend es gegeben ward, auch von anderem sich zu nähren. (Satzende folgt Vorbild.) Ich habe nie versucht, Schérers Husserl zu lesen, bin allerdings auch kaum in der Lage, bei Husserl – ob übersetzt oder nicht – den Glückswurf vom Bockmist zu unterscheiden
Unlängst hatte ich einen kleinen Wasserschaden. Es hatte Ernst Bloch getroffen, im Treppenhaus unter der Dusche angesiedelt, und am schlimmsten den französischen Thomas Münzer ganz links, den ich seinerzeit wohl deshalb gekauft hatte, um einen Hiesigen mit unseren Propheten bekannt zu machen. Als das Werk wieder halbwegs trocken war, musste ich die Seiten trennen und begann zu lesen. So war mir Bloch aber nicht in Erinnerung. Die Übersetzung war vom großen Gandillac, dem geistigen Vater der gesamten neueren französischen Philosophie und Maître von Jacques Derrida und Gilles Deleuze. Und diese Übersetzung wimmelte nur so von absurden Verständnisfehlern. Maurice de Gandillac hat nicht nur Bloch und Benjamin, sondern auch Hegel, Nietzsche und was weiß ich sonst noch übersetzt. Er war DER Spezialist für die deutsche Philosophie. Und er konnte offenbar nur mäßig Deutsch.
Ich gebe ein paar haarsträubende Beispiele auf nur wenigen Buchseiten, bei Bloch, stb, S. 59 und 63, bei Gandillac, 10/18, S. 85, 90 und 91:
BLOCH S. 59:
Die Prophetie deutete so den Ihren die Zeichen der Astrologie vollends auf Wendezeit und Puppenstand […]
GAND S. 85:
La prophétie interprète pour les siens tous les signes astrologiques dans le sens, à la fois, d’un changement d’époque et d’une humanité réduite à l’état de marionnette […]
(marionnette anstatt chrysalide. Also „Puppe“ hier nicht, wie gemeint, als Larve im Zustand der Verpuppung, typisch Bloch’scher Latenz, sondern vulgärmarxistisch – oder gar Kleist folgend – als „Marionette“; und dann gehört natürlich ein „reduziert“ mit hinein.)
Der nächste Satz:
BLOCH:
Und das Stellungsgefühl im Kosmos machte mit, gemäß der apokalyptischen Einströmung in einen Weltbau auf Abbruch […]
GAND:
Et le sentiment d’avoir sa place au sein même du Cosmos joue ici son rôle comme irruption apocalyptique dans une genèse et dans une destruction de l’univers […]
(„auf Abbruch“ hier rein im Sinn des Bauunternehmers verstanden, mit „Zerstörung“ übersetzt, und zur Relativierung die „Genese“ hinzugefügt. Der Gedanke des Provisorischen wurde nicht erfasst.)
BLOCH S. 63:
Nur scheinbar also herrschte bodenständiger Sinn und Wille im aufgebrochenen spätgotischen Volk […]
GAND S. 90:
C’est donc en apparence seulement que, chez le peuple brisé du gothique tardif, régnaient un sens et un vouloir d’enracinement […]
(Da wird ein Volk, das AUFGEBROCHEN ist, zum GEBROCHENEN Volk, und „bodenständiger Sinn und Wille“ zum „Sinn VON und Wunsch NACH Verwurzelung“)
Auf derselben Seite:
BLOCH:
hier gelingt nicht mehr […] eine dermaßen rasende […] Idee […] als bloßes Ineinander von Verlegenheit und Unklarheit […] zugrunde zu analysieren […]
GAND:
point ne suffisait non plus […] de superposer l’analyse en profondeur d’une si folle idée […]
(„zugrunde analysieren“ missverstanden als „tiefgehend analysieren“, dann ein „superposer“ ergänzt, damit sich – irgendwie – ein Sinn ergibt. Das Satz ist zu lang für ein vollständiges Zitat, doch da „zugrunde“ als „gründlich“ missverstanden wurde, passt hier überhaupt nichts mehr.)
Drei Sätze weiter unten:
BLOCH:
Sondern Tabor entsteht, eine ganze kommunistisch-spirituale Stadt; und Münster erschien am Ende, als förmliche Adventsstadt antretend, ausschweifend, untergehend.
GAND:
[Ce fut] l’érection du Thabor, de la cité tout entière vouée au communisme spirituel ; et finalement Münzer apparut, franchissant le seuil de la cité adventiste, extravagant, courant à sa perte.
(Die Stadt Münster war Gandillac anscheinend unbekannt, wurde für einen Druckfehler gehalten und stillschweigend korrigiert. Es ist nun Münzer in Person, der in eine namenlose Wiedertäuferstadt eintritt – antreten, eintreten, egal! – und er, nicht die Stadt, ausschweifend und untergehend.)
Das sollte genügen. An einer Stelle, die ich mir leider nicht angestrichen hatte, wurde „es wuchs ihm über den Kopf“ wörtlich übersetzt. Und weil das im Französischen sehr seltsam klingt, folgte ein Einschub, der diese „dunkle Formulierung“ aufzuhellen versuchte. Dass es sich im Deutschen um eine Redewendung handelt, war erneut unbemerkt geblieben. Ebenfalls, dass das gesamte Arbeit dem Übersetzer über den Kopf gewachsen war.
Kurz danach fiel mir der ebenfalls sehr bedeutende Pierre Ayçoberry in die Hände, ich meine dessen klassische Studie über die „Nazifrage“. Unversehens stieß ich erneut auf Ernst Bloch, ein Zitat aus dem Vorwort zu „Erbschaft dieser Zeit“: „La teneur des feuilles que voici, le point de vue à partir duquel se fait la recherche, est approximativement marxiste.“ Wie das? Bloch 1935 als ein „ungefährer“ Marxist? So „ungefähr“ wie später die DDR-Kulturfunktionäre sich das vorstellten? Selbstverständlich liest man in diesem Vorwort, BS, S. 15, nichts von „annäherungsweise“ oder „annähernd“, sondern der Satz lautet: „Der Tenor dieser Blätter, der Standort, von dem untersucht wird, ist des näheren marxistisch.“ DES NÄHEREN. Auf Französisch: (plus) précisément. Dass Ayçoberry bei diesem „approximativement“ nicht gestutzt hat, legt den Verdacht nahe, dass ihm auch noch anderes entgangen ist.
So jedenfalls sieht es mit dem französischen Ernst Bloch aus, übersetzt von Koryphäen.
*
Was Foulcaults Erben angeht, ist zu bemerken, dass Defert, weil, wie er selbst zugab, das Parkett in seiner (d. h. der ihm von Foucault hinterlassenen) Wohnung erneuert werden musste, vor zwei Jahren die Archive des Verstorbenen verkaufte. Man kann von Geheimniskrämerei und diesem gewissen Sauberkeitsfimmel halten, was man will, doch es ist allgemein bekannt – und Defert gibt auch DAS zu – dass Foucault keine postumen Veröffentlichungen wünschte. Er vernichtete seine Entwürfe bzw. die Manuskripte für seine Seminare nicht, sie sollten der Wissenschaft erhalten bleiben, doch veröffentlicht wollte er sie nicht mehr haben, er wollte nicht, das jeder nachvollziehen konnte, wie seine Werke zustande gekommen waren. Sein Erbe brauchte aber Geld, da er, der mit Foucault weder verheiratet noch blutsverwandt war, seinerzeit die dann fälligen 60 % Erbschaftssteuern hatte entrichten müssen. Da er sich nun als aber Foucaults Witwer sieht, und er als Witwer nichts oder nur sehr wenig hätte bezahlen müssen, hält er sich auch für berechtigt, diese 60 % durch Veröffentlichungen und den Verkauf von Archiven nach und nach wieder hereinzuholen. Er gibt ebenfalls zu, schon zu Foucaults Lebzeiten Korrespondenz usw. aus dem Papierkorb gefischt zu haben. Foucault warf weg, das treue Lieschen aber sammelte die zerknüllten Papiere und strich sie wieder glatt, um sie eines Tages zu veröffentlichen. Nur den eigenen Briefverkehr mit Foucault will Defert „mit ins Grab nehmen“.
Klar, als vor wenigen Jahren die Materialien zu Barthes’ Discours amoureux erschienen, fand auch ich das äußerst interessant und erstand das Buch sofort. Es wurde augenfällig, wie mühsam diese „Fragmente“ zustande gekommen war und wie viel an Diskussionen mit Studenten hineingeflossen war, dass es sich letztlich also um ein Art von Kollektivprojekt handelte und auch diese Studenten auf dem Buchdeckel hätten erscheinen müssen. Der Bedeutung des Discours tat das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, denn hier wurde das Meisterwerk selbst der „Entmystifizierung“ unterzogen. So schaden sicherlich auch die von Defert zu verantwortenden Paralipomena nicht. Dennoch geht es dabei ganz eindeutig erst in zweiter Linie um eine Bereicherung des LESERS. Wen soll ein miese Übersetzung unter solchen Umständen schon groß stören?
Die Übernahme der indischen Tradition der Witwenverbrennung, die viele Geisteswissenschaftler in Hinblick auf Max Webers Witwe und Nietzsches Schwester so innig herbeiwünschten, scheint demnach für Witwen beiderlei Geschlechts angebracht zu sein …
Lieber JJ Schlegel, Ihre Ausführungen zur Übersetzungsproblematik sind interessant, instruktiv, amüsant. So ist man es von Ihnen gewohnt. Auch nicht überraschend sind Ihre Bemerkungen zu Foucault/Defert. Die allerdings finde ich etwas unverständlich. Defert hat Foucaults Nachlass verkauft, aha, soso. Was spricht dagegen? Ob er sich als Witwer betrachtet oder nicht: Er ist der Erbe, er darf das. Den Nachlass einer öffentlichen Institution (gegen Entgelt) zu überlassen scheint ja genau Foucaults Wünschen zu entsprechen: „sie [Entwürfe, Manuskripte] sollten der Wissenschaft erhalten bleiben“. Sie sprechen von diesem und jenem, was Defert „zugegeben“ habe. Wer hat denn irgendwelche Vorwürfe erhoben? Ist denn Foucaults Willen zuwidergehandelt worden? Kam es zu irgendeiner postumen Veröffentlichung? (Die Vorlesungen sind jedenfalls keine: Als gehaltene sind sie per defintionem bereits veröffentlicht gewesen, wenn auch nicht schriftlich.) Von welchen Paralipomena sprechen Sie? Statt Andeutungen in verschwörerischem Tonfall zu machen, sollten Sie sich einmal zu konkreten Angaben herablassen. Wäre jedenfalls mein Wunsch, aber mit solchen Wünschen, ich weiß es wohl, läuft man oft ins Leere.
Lieber Stefan Broniowski,
Ja, es sind Vorwürfe erhoben worden.
Da ich kein Historiker bin und auch keine diesbezüglichen Ambitionen habe, will und kann ich den Krieg, der um Foucaults Nachlass geführt wurde – fast eine „Staatsaffäre“ – nicht Schacherzug für Schacherzug nacherzählen, doch es ging in erster Linie darum, dass dieser Nachlass in Frankreich bleibt und nicht in den USA verschwindet. Ich habe die in der Presse erschienenen Artikel nicht gesammelt, unsere Wohnungen sind dafür zu klein, und bin deshalb leider nicht in der Lage, daraus zu zitieren. Zusammenfassungen findet man online. Ebenso Blogbeiträge. Es genügt, „foucault archives defert“, „aeschimann foucault defert“, „assouline foucault“, „foucault bnf“ o. Ä. einzugeben. Ob es auch Sachdienliches in deutscher Sprache gibt, entgeht meiner Kenntnis. In Assoulines Blog hatte in übrigens einen kleinen Kommentar gepostet.
Es war immer wieder Defert, der den Bezug zur Erbschaftssteuer herstellte, und die Sache mit dem Parkett stammt auch von ihm. Und es war Defert, der sich dafür entschuldigte, Foucaults Wunsch nach keinen postumen Veröffentlichungen zuwidergehandelt zu haben. Er rechtfertigt sich mit Hinweis auf den schon 1986 verstorbenen Dumézil. Nun, das sind Entschuldigungen, oder Rechtfertigungen, oder wie immer man das nennen mag.
Um noch einmal auf die Archive zurückzukommen: Wir dürfen auf keinen Fall die für die französische Geisteswelt bittere Erfahrung vergessen, dass ihre Erzeugnisse seit geraumer Zeit erst über amerikanische Vermittlung, also über eine Drittkultur, im Rest der Welt ankommen. Den nicht ganz unschuldigen Derrida beispielsweise hat diese Art von Kulturimperialismus bis zur Karikatur verzerrt. Derartige Verzerrungsphänomene werden jetzt regelrecht erwartet, und deshalb wurde diese Angelegenheit auch so wichtig genommen. Kommt Berkeley und das „Michel Foucault Center“ ins Spiel, überhaupt amerikanische scholarship, was all things French angeht, schwant einem nichts Gutes. Das wusste (oder weiß) auch Defert, und dennoch war er bereit, den Bestand dem gefürchteten Zwischenhändler zu verhökern.
Es war nicht meine Absicht, Foucaults Witwe herunterzuputzen, ich habe nur durchblicken lassen, was hierzulande Gemeingut ist. Nennen wir es Pariser Geschichten, die, wie alle Pariser Geschichten, gleichzeitig höchst interessant und völlig uninteressant sind.
Lieber, geschätzter JJ Schlegel! Putzen Sie Witwen und Witwen herunter, so sehr Ihnen der Sinn danach steht, ich habe gar nichts dagegen, warum auch. Nur habe ich bei solchen Gelegenheiten, bei denen es Anspielungen hagelt, immer diesen blöden Wunsch nach Quellen, nach Belegen, nach einer Möglichkeit, Angedeutetes in Nennungen von Ross und Reiter zu übersetzen. Auf Nachfrage zur Antwort zu geben: Das steht irgendwo, schaun Sie selber im Internet nach, ist etwas lasch, finden Sie nicht? (Zumal es uns nun schon zum zweiten Mal passiert.) Was ich immer noch nicht verstehe: Defert hat Foucaults Nachlass an die Frz. Nationalbibliothek verkauft, was hat das mit Ängsten vor Amerika zu tun? Und was ich immer noch nicht gesagt bekommen habe: Gab es postume Veröffentlichungen? Sind welche geplant? Und schließlich,um beim Thema zu bleiben: Wer übersetzt sie? Wäre doch zu chic, wenn neuer Foucault bei Männerschwarm herauskäme …
Es handelt sich um folgende Werke:
http://fr.wikipedia.org/wiki/Dits_et_%C3%89crits
Ansonsten habe ich nichts hinzuzufügen. Der Ton macht die Musik, und Polizei oder Untersuchungsrichter müssen sich eben mit dem begnügen, was der Beschuldigte mitzuteilen bereit ist. „Uns“ ist dabei überhaupt nichts „passiert“, weder zum ersten, noch zum zweiten Mal.
Außer Tönen (die manches Ohr auch bloß halluziniert) gibt’s ja noch allerhand Geräusche. Und mancher schreit „Au!“, der gar nicht getroffen werden sollte. Wenn schon harmlose Fragen derart brüskieren, was wird erst sein, wenn ich sage: Schon bei anderer Gelegenheit hat JJ Schlegel hier unwahre Dinge über Foucault (und Fichte) behauptet, diesmal über Defert. In beiden Fällen gab er mir auf meine durchaus höfliche Anfrage zur Antwort, das habe er irgendwo gelesen, könne und wolle aber nicht herausfinden, wo. Das ist tatsächlich passiert, zweimal, mir mit ihm, also uns. Was die jetzige unwahre Aussage (sofern man sie aus Andeutungen destillieren darf), es habe gegen Foucaults erklärten Willen postume Veröffentlichungen gegeben, so zitiere ich bzgl. der „Schriften“ de.wikipedia.org: „Die Herausgeber veröffentlichten gemäß Foucaults Wunsch nur Material, das der Philosoph schon zu Lebzeiten veröffentlicht hatte.“ – Das wichtige und interessante Thema, das Joachim Bartholomae hier zur Diskussion gestellt hatte, nämlich wie schlecht Foucault ins Deutsche übertragen wurde, sollte nicht durch offensichtlich unsachliche und nicht sachhaltige Anfeindungen getrübt werden, finde ich – so geistreich diese sich auch zu geben versuchen.
Lieber Stefan, irgendwie redet ihr aneinander vorbei. Herr Schlegel hat am 13.10. klare Quellenangaben gemacht, die sehr ausführlich und sehr interessant seine These belegen. Defert schreibt selbst: „Puis nous avons commencé à transgresser lorsque nous avons publié les cours.“ (dt: Dann haben wir begonnen, gegen die Vorschriften [des Testaments] zu verstoßen, indem wir die Vorlesungen veröffentlich haben.) Was brauchst Du denn noch? Wenn der Erbe selbst den Gesetzesverstoß zugibt, ist Wikipedia wohl kaum die zuverlässigere Quelle. Die Notlage (= die schwulenfeindliche Rechtslage in Frankreich Mitte der 1980er Jahre) wird dabei nicht bestritten, aber anders als im Fall Kafka / Brod kommt aufgrund dieser Notlage offenbar viel unnützes Zeug an die Oberfläche, das lässt sich nun wirklich nicht bestreiten.
Dieser Blog will sich dem Gedankenaustausch widmen; er ist keine akademische Veröffentlichung, die allen Nachweispflichten genügen muss. Vor sehr langer Zeit habe ich an diesem Ort aus dem Gedächtnis Martin Dannecker zitiert, und Du hast mich nach der Quelle gefragt. Weil ich die nicht fand, habe ich Martin selbst gefragt, und der meinte nur, sowas könne er durchaus gesagt haben, wannwiewo wisse er aber auch nicht. – Viele Wissensbestände dringen „osmotisch“ in unser Gedächtnis, und ich würde hier einfach mal frech behaupten: bei klugen Leuten nehmen diese Gedächtnisinhalte gerade dadurch eine besonders prägnante Gestalt an. Wir sollten in der Auseinandersetzung der Blog-Kommentare Polizeimethoden vermeiden und uns gegenseitig für glaubwürdig nehmen, ich glaube, das haben wir alle verdient.
Natürlich will ich damit kein Verbot des Zweifels oder Widerspruchs aussprechen, im Gegenteil. Aber ich wünsche mir, dass die Debatte interessant bleibt und nicht in „Nein – Doch – Nein – Doch“ ausartet. Interessant ist eine Argumentation, die inhaltlich herleitet, warum eine bestimmte Behauptung auf eine Person oder Sache bezogen unsinnig sein MUSS, egal, ob man eine Quelle hat oder nicht. (Bei Guttenberg war es ja umgekehrt: seine Quellen waren, selbst wenn er sie genannt hätte, zumeist trivial und irrelevant, sodass der eigentliche Skandal darin liegt, dass dieses Geschwurbel als Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde überhaupt angenommen wurde.)