Muss man als schwuler Leser schwule Bücher verlangen, in denen Homosexualität und Homosexuelle positiv dargestellt werden? Martin Weber, ein engagierter und geschätzter Rezensent der österreichischen „Lambda Nachrichten“ ist dieser Meinung. In der Oktober/ November-Ausgabe der Zeitschrift schreibt er:
„Was genau versteht man unter „schwulen Krimis“? Die einfachste Antwort wäre wohl die Klassifikation, dass es einen schwulen Kommissar, einen schwulen Täter oder das entsprechende Milieu samt schwulem Opfer braucht. Dem gegenüber steht die Erkenntnis, dass Homosexualität schon immer gerne mit Verbrechen in Verbindung gebracht wurde, das heißt, dass so mancher „schwule Krimi“ durchaus homophob sein kann; ein berühmtes Beispiel dafür ist der Film Cruising mit Al Pacino, auf dessen diskriminierende Grundtendenz 1980 mit Protesten reagiert wurde. Der Querverlag hat auf dieses Faktum reagiert und eine Reihe mit dem Titel „Quer Criminal“ eröffnet. Wie wichtig dieser Schritt ist, zeigt sich schon allein darin, dass die Bücher dieser Reihe zwar von unterschiedlicher Qualität sind, dass sie aber mit dem Thema Homosexualiät verträglich umgehen. Das schätzt man umso mehr, wenn man zwei Romane analysiert, die in anderen Verlagen erschienen sind.“
Diese bösen Krimis sind zum einen Rolf Redlins „Bullenbeißer“ aus unserem Verlag, zum andern einer meiner Lieblingskrimis, „Abriss Leipzig“ von Kotte, der in diesem Blog auch schon besprochen wurde. In diesem Punkt scheinen Martin Weber und ich nun wirklich komplett entgegengesetzter Auffassung zu sein, was aus meiner Sicht heißt: man versucht, die Kontroverse auszutragen, was ich hiermit beginne.
Sieht man von Arzt- und Adelsromanen und dergleichen Trivialkram ab, so lebt die Literatur ganz allgemein von den Schattenseiten des Lebens, denn die sind es, die eine gründliche Erörterung verlangen. Auch wenn die Interessenorganisation ausgesetzter Königskinder dagegen protestieren mag, ist Ödipus nun einmal der Mörder seiner Vater und Beischläfer seiner Mutter. Hätte sich Sophokles lieber einen netteren Plot ausdenken sollen? Was wäre dann aus Freud und seinen großen Theorien geworden? Man sieht: so einfach geht das nicht. Neulich schrieb ein Leser über einen Roman, darin würde für seinen Geschmack zuviel gekifft, in einem anderen Fall war die Hauptfigur einem Leser zu selbstmitleidig. Darf Literatur nur Personen und Verhaltensweisen mit Vorbildcharakter darstellen? Das kann doch hoffentlich niemand wollen. Wenn man sich statt dessen der Wirklichkeit zuwendet, wie sie nun einmal ist, wird man es nicht nur mit „schwulen Identifikationsfiguren“ zu tun haben, wie Martin Weber fordert. Und so, wie Behindertenvereine öffentlich für Krüppelwitze eintreten, fordere ich die schwule Dumpfbacke als literarische Figur, denn davor gibt es nun einmal weit mehr als kultivierte Mittelstandsschwuppen (wobei die einem ja auch ganz schön auf den Nerv gehen können …). Und Henner Kottes schwuler Kommissar ist in all seinem Beziehungselend eine so komplexe und präzise gezeichnete Figur, wie sie nur wenige Autoren von „Identifikationsbüchern“ zu schaffen in der Lage sind. Der Zeit der schwulen Schonräume sollten wir doch allmählich entwachsen sein, oder?
Zunächst möchte ich beiden Seiten Unrecht geben. Weder befasst sich (nicht-triviale) Literatur notwendigerweise nur mit „Schattenseiten“, noch kann es ihr nur darum gehen, dem Leser „positive“ Identifikationsangebote zu machen. Dann aber fällt mir auf, dass ich, wenn ich zu wählen hätte, lieber gut geschriebene Texte mit lauter Abgründen, Grausamkeiten, Enttäuschungen, Banalitäten, Sorgen und Nöten läse als irgendwelchen schalen Heile-Welt-Kram. Anders gesagt, alle Identitätsduselei ist mir von Grund auf verhasst, und Schönheit („The artist is the creator of beautiful things“) tut sowieso immer weh.
Sollen Geschichten denn etwa so aussehen: Ein schwuler Frisör macht einem schwulen Kunden in einem schwulen Salon mit schwulem Kamm und schwuler Schere eine wunderschöne schwule Frisur, während er dabei total witzige schwule Sachen sagt, ein schwules Hündchen schwul dazu kläfft und eine schwule Sonne auf das schwule Idyll scheint? And they lived happily ever after …
Ich meine: Wenn man wirklich lesenswerte Literatur wünscht, darf man die Frage, was „schwul“ überhaupt bedeutet, nicht immer schon für beantwortet halten. Identifikation? Identität? „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: Das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns freilassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.“
Identität? Identifikation? Dieses erschreckende, aber übrigens nicht nur an Belletristik gern herangetragene Bedürfnis, „sich wiederzufinden“ (womit aber nie die eigene Realität gemeint ist, sondern ein stark behübschtes Wunschbild), halte ich allerdings nicht für kindlich, sondern für erbärmlich. Kinder, Jungs zumindest, identifizieren sich meist einfach mit dem Stärkeren, um eigene Stärke daraus zu beziehen. Also wollen sie auch eher Darth Vader sein als der langweilige Luke Skywalker.
Die Forderung nach „positiven Helden“ hingegen ist immer ideologisch, komme sie nun aus der Mitte der Gesellschaft („Gartenlaube“) oder werde sie staatlich verordnet („Sozrealismus“). Ablenkungs- und Einstimmungsmanöver.
Derlei passt dann auch wunderbar zur Politik gewisser biederer Vereinigungen (wie der Herausgeberin der unlesbaren Lambda-Nachrichten), die außer Homo-Ehe, Schwulenparade und „Bürgerrechten“ keine Themen und darum auch keine Kritikpunkte mehr haben und sich eine ehrbare, saubere, staatlich anerkannte, perversionsfreie, konsumentenfreundliche, TÜV-geprüfte, selbstgenügsame Homosexualität wünschen, von der keine Beunruhigung schwacher Spießbürgernerven mehr ausgeht.
„Bücher, die weh tun“, wurden hier in einem Posting am 21.9. gewünscht. Das war eigentlich schon vorweg die Antwort auf Martin Weber. Ich schließe mich ihr nochmals an.
Als jahrzehntelanger Leser kann ich die pauschale Verurteilung von Lambda-Nachrichten nicht einfach so stehen lassen. Diese „Reduktion“ ist „kriminell“ und überflüssig.
Wenn ich in einer Thalia Filiale in Basel „antischwule“ religiöse Literatur mitten unter „schwuler“ Literatur finde, dann schreib ich das der Dummheit des „Katalogabschreibers“ beim bestellen zu. Wenn ich diese Titel aber im „führenden“ schwulen Laden auch finde, dann habe ich einige Zweifel – an der Intelligenz natürlich…
Ich habe kürzlich zwei schwule Romane gelesen, denen ich „Propagierung“ von Drogen vorwerfe: Langer Nächte Tag und Strobo. Aber schon 1970 veröffentlichte ein Medizinverlag „Drogen unter uns“, was auch eine Art Nachschlagewerk darüber enthielt…
Es wäre unsinnig, neue Auflagen von Büchern von „Pädophilie“, Drogenwerbung, oder religiöser Propaganda aus der Vergangenheit zu säubern. Wohl aber liegt es in der Verantwortung der Verlage von heute – und auch „schwuler“ Buchhändler – so es sie denn noch gibt – ihr Angebot zu gestalten.
Bücher sind Ausdruck ihrer Zeit. Der Umgang mit Schwulen ist Veränderungen unterworfen – auch derjenige untereinander (safer Sex). Das alles gehört in die Bücher, sonst können wir sie gleich wegwerfen.
Bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage. Ich bin jahrzentelanger Nichtleser der LN. Allerdings habe ich über diese auch nichts Schlimmeres gesagt als dass sie unlesbar ist. Wenn man damit schon kriminell wird, dann gute Nacht … Alles andere – Lesen müsste man halt können – bezog sich ausdrücklich auf die LN-Herausgberin, bekanntlich die HOSI Wien. Wenn nun aber Polemik gegen deren reaktionäre Politik ein Verbrechen ist, dann nochmals: Ich bin schuldig! Verurteilt mich! Ich will in den Knast und Seife auffheben!
Wie großzügig von Thommen, dass er keine Säuberung von Neuauflagen fordert, also Pädophilie, „Drogenwerbung“ und „religiöser Propaganda“ (übrigens eine interessante Aufzählung) anordnet. Und nett, dass er Verleger an ihre „Verantwortung“ erinnert, auch wenn’s ein klitzekleines bisschen bedrohlich klingt. Immerhin ist es gut zu wissen, dass da einer in Buchläden patrouilliert und kontrolliert, ob das „schwule Regal“ auch politisch korrekt und moralisch rein bestückt ist.
Ja, hab ich denn was verpasst? Ist Konrad Adenauer wieder da? Oder hat Sarah Palin heimlich das Ruder übernommen?
Wenn Bücher bloß Ausdruck ihrer Zeit wären, wären sie Wegwerfware. Zum Glück gibt es jedoch immer noch Autoren, die zwar auch unter Umständen über ihre Zeit schreiben, aber vor allem so, dass man gegen die Zeit etwas in der Hand hat.
Leute wie Thommen (und ich fürchte, es gibt viel zu viele davon) scheinen nur lesen zu wollen, was ihr enges Weltbild bestätigt. Alles andere nehmen sie allenfalls mit zwei Fingern zur Hand, ungehalten über den Unverstand der Früheren, die damals noch nicht mal korrekt ficken konnten, und angewidert von abseitigen Zeitgenossen, deren „Propagierung“ von was auch immer anscheinend dem verantwortungsvollen Blick von Verlegern und Buchhändlern entgangen ist. Heh, Zensurwunsch, ich erkenne dich, wenn ich dich sehe!