Mario Fuhse über Peer Hultberg – Selbstbiographie und Brief
Tief hinein in den hintersten Winkel des Gartens hat sich der junge Peer zum autistischen Spiel zurückgezogen. Sein Versteck birgt ihn und die von ihm gesammelten und getrockneten Pferdeäpfel, welche er, nach langem mehrseitigem Beschleifen zu Bausteinen geworden, ganz kreativer Baumeister, zu einer neuen Welt türmt, einer Welt aus Totenhäusern.
Das Beschriebene ist nicht nur Ort der Depression, es ist auch Metapher für endlose Momente der Einsamkeit und des Zwiespaltes. Denn das Dickicht ist nicht nur der Rückzugsort, es liegt so abseitig, dass ihn dort auch nie jemand suchen wird. Dabei hätte es dem Jungen Peer gut getan, gefunden zu werden.
Die detailliert beschriebene Kindheit im Elternhaus der Hultbergs läuft in diesem Bild zusammen. Das Wort Elternhaus trifft es jedoch nicht ganz, denn die Eltern sind gar nicht Peers leibliche Eltern. Er wurde im Alter von 15 Monaten adoptiert. Das kinderlos gebliebene Ehepaar Hultberg holte sich seinen Nachwuchs aus dem Kinderheim, den Grund für die Kinderlosigkeit weiß die Mutter geschickt zu verbergen. Sie wird ihn bis in den Tod bewahren.
Peer bleibt nicht nur im Garten allein. Seinen Wunsch nach Nähe erstickt die geformte Familie stets im Keim. Als die Schwester Karin hinzukommt, ebenfalls adoptiert, und er sie zärtlich berühren will, schreit sie wie am Spieß, sodass die Mutter ihr Berührungsverbot bestätigt findet und Peer weitere Distanzierungen auferlegt, deren Auswirkungen sich tief in die Seele des Jungen fressen. Auch auf dem Schulhof bleibt er allein. Aufmerksamkeit wird ihm nur in Hänseleien zuteil. Wegen seiner kurzen Hose und den langen Strümpfen, die er dazu tragen muss, wird er verlacht. Die Liste der Demütigungen will nicht abreißen.
Befreien kann sich Peer schließlich durch die Musik und später im Studium. Zudem entdeckt er nur langsam und in kuriosen Überraschungsmomenten seine Sexualität.
Kaum ein Selbstzeugnis aus dem vergangenen Jahrhundert zeigt eine selbstverständlichere Haltung zur eigenen Homosexualität. Gerade hierin liegt eine der großen Überraschungen dieses Textes, der durch seine unausgearbeitete Form durchaus Anlass zur Kritik bieten könnte. Die Gründe, warum Hultberg den Text nach 1998 nicht mehr aufgegriffen hat, bleiben im Dunkeln. Fakt ist, dass es den Text vor aller Augen und Ohren bis wenige Stunden vor seinem Tod geheim gehalten hat.
Fast elf Jahre, vom 6. Oktober 1987 bis zum 21. Juli 1998 schrieb Hultberg an seiner Selbstbiographie. Es ist nicht verwunderlich, dass das Schreiben daran nach all den Erfahrungen im Verborgenen geschah.
Auch die Briefe an seine Mutter, die Hultberg nach deren Tod als Trauerbewältigung verfasste, wurden in einem zweiten Buch herausgegeben. Gerade in diesem Duett sind die nun veröffentlichten Nachlasstexte ein spannungsreiches Lebenszeugnis. Die Selbstbiographie mit ihrem freieren erzählendem Ton, den leichten Perspektivverschiebungen und gefühlsmäßigen Extremata. Der Brief bzw. die Briefe in ihrer sprachlichen Konzentration und Genauigkeit, einer scharfen Abrechnung mit der Mutter, dieser Hassliebe aus Verachtung und Zuneigung, die schlussendlich in einer Dankbarkeit für das geführte Leben kulminiert, findet sein Pendant im Brief an den Vater von Franz Kafka.
Immer wieder zeigt sich: Es sind nicht die einzelnen Verfehlungen, die ein Kind dauerhaft verletzen, sondern es sind Summe und Vehemenz, die Ausgangspunkt für sich nie wirklich schließende Wunden bilden. Schlussendlich ist es ein einziger, für Peer möglicherweise der lebensrettende Ausweg, die Kreativität, der Hultberg vor dem Selbstmord bewahrte. Denn nur so konnte, und an dieser Stelle sei nicht nur des Bogens wegen der Ausdruck gestattet, die ganze erduldete Scheiße, zu etwas anderem, für ihn Schönem und Handhabbarem werden.
Bibliographische Angaben:
Peer Hultberg: Selbstbiographie und Brief
Salzburg: Jung und Jung, 2010, ISBN 978-3-902497-77-2
36 €
kleine Nachfrage: wenn die Homosexualität so selbstverständlich angenommen wurde, warum wurde die Autobiografie dann geheimgehalten?
kurze antworten auf die nachfrage: Hultberg arbeitete als therapeut in Hamburg und war stets darum bemüht, seine literarische Arbeit von der therapeutischen zu trennen, er las daher auch nur sehr selten in Hamburg. zudem ist das buch eine schonungslose selbstanalyse, die für die beteiligten, die zum teil noch leben, eine beleidigung ist. es wäre falsch, hier von abrechnung zu sprechen, denn selbstanalyse heißt: befindlichkeiten aufzuzeigen: wie habe ich damals anderen gegenüber empfunden etc. zudem war der text noch nicht durchgeschrieben, das heißt Hultberg hätte diese Selbstbiographie noch zu einer weniger redundanten form umarbeiten wollen, die kraft dazu aber nicht mehr gehabt. die geheimhaltung ist ein zug, der sich durch die lektüre erschließt, sie erklärt sich durch seine spezielle sozialisation.
Viborg hat Hultberg in seinem meisterlichen Roman Die Stadt und die Welt portr tiert dessen Titel ironisch den p pstlichen Segen aufgreift und damit nicht weniger behauptet als dass die kleine d nische Stadt f r die Welt selber steht. Denn das Leben ist nicht in Viborg nicht in D nemark das Leben ist immer anderswo.