Sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen, wieder zum Kind zu werden, aber die erwachsene Persönlichkeit, alles Wissen, alle emotionale Reife dabei zu behalten, kann ein interessantes Setting für einen Roman sein.
Christoph Geiser hat vor einigen Jahren mit „Kahn, Knaben, schnelle Fahrt“ ein Zwiegespräch seines erwachsenen Ichs mit seinem jüngeren Ich zu Beginn der Pubertät geführt, die Konstellation ist also weitgehend dieselbe. Er probiert aus, was dieser Junge, der er einmal war, hätte anders machen können, damit am Ende er, der Erwachsene, glücklicher geworden wäre als er es tatsächlich ist.
Zeitreisen welcher Art auch immer laufen darauf hinaus, Dinge zu erfahren oder Abläufe zu verändern. Olivier Bouillère, der Held in Olivier Bouillères Roman, gerät in ein stinklangweiliges bourgeoises Familienumfeld, in dem Kinder und Erwachsene ständig nur an Sex denken. Warum braucht er dazu eine Zeitreise? Die Erfahrungen in dieser Welt von vor zwanzig Jahren stehen in keinem Verhältnis zu Fragestellungen, die für die erwachsene Person von Belang wären. Falls autobiografisch solche Bezüge existieren, verzichtet der Roman darauf, sie herauszuarbeiten.
Bleibt also ein routiniert-ennuierter Tonfall, der französische Literatur nun einmal auszeichnet, und dazu jede Menge kaltschnäuzig gelebter und geschilderter Sexualität. Wäre ich Amazon, würde ich sagen: Leser, die dieses Buch gekauft haben, mögen auch Olivier Py; Leser, die lieber ein richtiges Buch lesen wollen, greifen zu Jourdan oder Guibert. So weit, so gut, wäre da nicht der Pornografievorwurf bzw. die Schilderung von Sexualität in Verbindung mit Minderjährigen.
Klarer Fall, „Retro“ ist kein Text zum Aufgeilen, das verhindert schon der gelangweilte Tonfall, und das verhindert ein Handlungsaufbau, der den Leser von einer falschen Fährte zur nächsten, ganz bestimmt aber nicht in sexuelle Verstrickungen führt. Ein Kommissar holt den Schwanz raus und legt dann die Jacke drüber, man bläst und fickt unter Mitschülern, und schließlich gibt es einen Bösewicht, auf den der zehnjährige Olivier als eine Art Lockvogel angesetzt wird. Der penetriert ihn so heftig, dass der Junge meint, sein Inneres werde am anderen Ende aus dem Körper hinausgedrückt. Perspektive ist immer die des abgebrühten dreißigjährigen „Jungen“ (im Körper des zehnjährigen), was die „Täter“ möglicherweise empfinden, bleibt im Dunkeln.
Ich habe wirklich keine Ahnung, was das alles soll, und ich vermute, der Autor weiß das genauso wenig. „Retro“ ist nach einer Masche gestrickt, die in Frankreich anscheinend immer gern gelesen, und in Deutschland offenbar immer gern ignoriert wird. Die vordergründige Verbindung von „Kind“ und „steifer Schwanz“ soll die müde Handlung in Schwung bringen, aber der Leser bleibt dabei ebenso unbeteiligt wie die Figuren im Roman. Auf die Frage: Darf Literatur so etwas?, lautet deshalb die Antwort: Ja klar, aber warum sollte sie?
Man müsste mal ins Original schauen. Ein Text, der so schöne Sätze enthält wie:
„Es ist ein Kind, so sagt man, das bei ihm nicht glücklich ist.“,
„Es wird nötig, dass ich meine Gewohnheiten wieder annehme.“,
„Es bedarf einer Komtesse.“,
einem solchen Text stehe ich in jeder Hinsicht skeptisch gegenüber. Vielleicht hilft dem Original eine andere Sprache auf die Sprünge.
Es ist nicht jeder Übersetzung immer zu trauen! Aber gab es da nicht mal einen deutschen Autor, der ähnlich distanziert und doch aufreizend über das Thema geschrieben hat?
Ach ja, Goyke: Knabenliebe
Ich habe besagten Roman nicht gelesen, ich stecke seit langem kaum mehr die Nase in die vom Pünktchenverlag P.O.L verlegte Skandälchenliteratur – oder vielmehr Möchtegern-Skandälchenliteratur – deren Funktion mittlerweile hauptsächlich darin zu bestehen scheint, Herrn Paul Otchakovsky-Laurens das Bankkonto zu füllen; immerhin ist er Verleger und Schöngeist genug, neben seinen Einwegtiteln hin und wieder ein offensichtlich als Verlustgeschäft geplantes Kunstwerkchen voller Schleierhaftigkeiten herauszubringen.
Ergoogle ich „Rétro“, fällt mir auf, dass dieses Buch, außer offenbar begeistert von Beigbeider im französ. Playboy, aber der zählt ja eh nicht, kaum auf etwas – wie soll ich es nennen? – individuelle Art und Weise besprochen wurde. Richtig verrissen wird es nirgends, man beschränkt sich aber fast grundsätzlich auf das absolute Minimum an Lob. Auch in der Matricule des Anges und vergleichbar hippen Literaturmagazinen, oder der Blogosphäre, hält man sich zurück. Man kennt P.O.L, man sieht den Umschlag und weiß schon, was man zu erwarten hat; und so verhält es sich mit den Besprechungen. Die Rezensenten können auch nicht aus ihrer Haut, und ihre Routine merkt man ihnen an. In Frankreich positioniert man sich in der Gesellschaft auch über den Verlag, den man liest – man liest hier häufig Verlage, nicht Autoren – und mit einem Buch von P.O.L in der Tasche setzt sich der nachwachsende Kulturspießer vom älteren ab, der noch auf Gallimard oder Minuit vertraut. Seine Metrostation heißt ja auch Oberkampf und nicht mehr St-Germain-des-Prés. Weil ihm das natürlich völlig klar ist, stimmt der Kritiker seinen Text darauf ab. In gewisser Hinsicht hat die Masse der Franzosen – zumindest der urbanen – ein rein konsumeristisches, oder vielmehr instrumentelles, Verhältnis zum Buch: als Mittel zum sozialen Zweck. Wer mitquatschen möchte, muss auch mitgelesen haben – möglichst auf derselben Schiene. Diese Nachfrage bestimmt dann das Angebot. Es ist vielleicht der Preis dafür, dass wir noch eine recht große Anzahl von Buchhandlungen haben.
Für Sätze wie „Seine Metrostation heißt ja auch Oberkampf und nicht mehr St-Germain-des-Prés. Weil ihm das natürlich völlig klar ist, stimmt der Kritiker seinen Text darauf ab“ muss man die Postings von JJ Schlegel einfach lieben. Das hat was von einem Apollinaire-Gedicht. (Die Adresse von P.O.L. ist übrigens rue Saint-André-des-art, was sagt uns das?)
Zu Bouillères „Retro“: Auch ich habe das Buch nicht gelesen (was sind das hier eigentlich für Konfessionen …), mir genügt aber der Eindruck, den die vom französischen und deutschen Verlag als PDFs zur Verfügung gestellten Ausschnitte mir vermitteln, um die negativen Urteil von Schulz und Batholomae bestätigt zu finden. Auf Grund bescheidenster Sprachkenntnisse wage ich zwar nicht, das Original zu beurteilen – ein Kritiker nannte diese Prosa „trocken“, das kann ein Reizhusten aber auch sein -, die Übersetzung jedenfalls ist grottenschlechtes Deutsch. Manchmal könnte man glauben, es sei eine Übersetzungsmaschine im Spiel gewesen. (Wer „salon“ mit „Salon“ statt mit „Wohnzimmer“ übersetzt, dem ist gewiss alles zuzutrauen.) Stofflich geht’s, von ein bisschen Pimmelnuckeln am schlafenden Knaben abgesehen, vergleichsweise harmlos zu. Die inkriminierten Sauereien werden wohl erst in späteren Kapiteln zu finden sein. Was ich gelesen habe, ist jedenfalls so fade wie der TV-Auftritt des Autors (siehe YouTube).
Sprechen wir also nicht über „Retro“, sehr gern. Eine Frage habe ich aber doch noch. Kann mir bitte irgendjemand erklären, was Pornographie ist? Die lexikalischen und juristischen Definitionen kenne ich – aber in der Sache? Glaubt außer mir wirklich jeder, dass es das wirklich gibt?
Wenn Paul Schulz schreibt: „Der Text ist eindeutig dazu gebaut, dem Leser Lust an der Bemächtigung des Kinderkörpers durch Erwachsene zu machen und schildert das Unbehagen des Kindes als Teil eben jener Lust. Und ich finde, das geht so nicht.“, so erstaunt mich daran nicht erst der zweite Satz, sondern schon das kräftige Selbstbewusstsein des ersten. Woher weiß ein Kritiker eigentlich, was ein Leser unbedingt empfinden muss? Nicht, dass es nicht objektive Strukturen von Texten gäbe, die die möglichen Wirkungen bestimmen. Aber welche Wirkungen vom Leser realisiert werden, bleibt doch wohl immer noch diesem überlassen und wird je nach Vorliebe verschieden sein. Derselbe Text, der dem einen Täterlust einflößt, mag den anderen anwidern. Wenn nun aber gerade das der vom Autor intendierte Effekte wäre, zur abstoßenden Identifizierung zu verleiten?
Doch auch abgesehen von möglichem moralische Zweck: „Geht“ nur Literatur, die das Gute, Wahre und Schöne anbietet? Und „geht“ dann nicht alle Literatur, die Unethisches darstellt, „so nicht“? Warum soll sich, die Welt der Literatur ist voll davon, der Leser mit Lügnern, Dieben und Killern identifizieren dürfen, mit „Kinderschändern“ aber nicht?
Wüsste ich also endlich, was Pornographie „an sich“ ist (also jenseits kontingenter Normen und willkürlicher Setzungen), wüsste ich wohl auch, warum unter allen möglichen Übeltätereien den als sexuell qualifizierten ein Sonderstatus eingeräumt wird und unter diesen den pädosexuellen ein noch besondererer. Vielleicht hat ja jemand Lust, mich aufzuklären. Merci.
Von H. M. Enzensberger stammt der kluge Satz, die Bewusstseinsindustrie setze ein individuelles Bewusstsein voraus, weshalb sie auch erst in modernen Gesellschaften zu finden sei. Pornografie, würde ich fortspinnen, setzt erotische und/ oder sexuelle Fantasien voraus, greift sie auf und reichert sie an. Es wäre wohl unmöglich, mich durch pornografische Literatur vom Reiz weiblicher Körper zu überzeugen, das stellt sich Paul Schulz wohl etwas zu einfach vor. Verführungstheorien sind m.W. nicht mehr so ganz auf der Höhe der Zeit.
Allerdings ist es in den meisten Fällen schon möglich festzustellen, worauf ein literarischer Text oder eine Fotografie etc. hinaus will, worauf er die Aufmerksamkeit des Lesers, Betrachters etc. lenkt – das Lenken der Wahrnehmung des Rezipienten ist schließlich eine der Funktionen ästhetischer Gestaltung. Es genügt jedoch nicht, eine Bemächtigungsfantasie zu behaupten, da würde ich schon gern den einen oder anderen Beleg sehen – selbst nachvollziehen kann ich diese Behauptung leider weiterhin nicht.
Was ist und was darf Pornografie? Wenn man sagt, dass pornografische Darstellungen insofern weniger komplex sind als andere Werke der jeweiligen Kunstgattung, als sie sich auf die sexuelle Erregung des Rezipienten beschränken, dann könnte man sich evtl. darauf einigen, kulturell zu einem gegebenen Zeitpunkt besonders aufgeladene Themen aus der Pornografie herauszuhalten. KZ-Sex z.B. findet wohl nur in den USA ein begeistertes Publikum, sowas gilt hier m.E. zu Recht als geschmacklos. Im Krimi geilt sich wohl nur ein kleiner Teil des Publikums am blutigen Abschlachten der Opfer sexuell auf, und auf jeden Fall ist die Darstellung in der Regel nicht auf sexuelle Erregung ausgerichtet. Da liegt ein Unterschied.
Ich muss sagen, dass Humbert Humbert den sexuellen Verkehr mit minderjährigen Mädchen sowohl als erstrebenswert wie auch als leicht zugänglich darstellt, so etwas habe ich anderswo kaum je gelesen. Weshalb „Lolita“ in Europa nie in Verdacht geriet, ist ein wahres Wunder.
Könnte man also von „reiner Pornographie“ dann sprechen, wenn gleichsam ein Pakt zwischen Autor und Leser vorliegt, die Darstellung so zu beschränken und die Wahrnehmung so zu lenken, dass (je nach Vorliebe) optimale Aufgeilung möglich ist? Das wäre dann wohl Wichsliteratur im weiteren Sinne.
Die aber ist ohnehin selten bis nie Gegenstand der Kontroverse. Meist geht es ja darum, ob ein bestimmter belletristischer Text AUCH pornographisch ist – und deshalb minderen Wertes. Wenn aber der oben genannte „Pakt“ gar nicht vorliegt, also gar kein stimulatorischer Gebrauchswert verabredet ist, was unterscheidet dann pornographische von nichtpornographischen Darstellungen als sexuell qulaifizierter Phänomene? Wäre nämlich bloß das Moment des – vom Autor intendierten und seinem Text objektiv eingeschriebenen – Aufgeilens des Lesers ein Kriterium, damit Pornographie vorliegt, was ist dann davon zu halten, wenn das Aufgeilen als Teil eines ästhetischen Konzepts vermutet werden darf, so wie das doch auch beim Erschrecken, Erheitern, Traurigstimmen usw. der Fall sein kann?
Sind nicht vielleicht einfach die Alternativen falsch: entweder porongraphisch oder künstlerisch, entweder pornographisch oder moralisch? Irgendwas läuft da doch immer schief in der althergebrachten Debatte um Ästhetik und Schrägstrich oder Ethik.
(Nebenbei: Dass Krimileser sich für gewöhnlich am Morden nicht sexuell erregen, mag durchaus sein. Aber als Krimi-Nichtleser stelle ich mir doch immer vor, dass es da irgendeine – dann eben nichtsexuelle – Faszination von Tötungsdelikten geben muss, die mir entgeht. Den allermeisten Lesern fehlte an Kriminalgeschichten, die bloß „Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion und Vordrucken für Euroschecks“ (§ 152b StGB) handeln, seien sie noch so kunstvoll erzählt, wohl doch der richtige Kick.)
Der Verweis auf Kazettsex deutet übrigens auf noch etwas Wichtiges. Von Pornographie ist ja besonders gern dann vorwurfsvoll die Rede, wenn Art und Umstände sexueller Betätigung eine Abweichung von den Normen des üblichen Geschmacks oder gar der geltenden Rechtsordnung darstellen. Insofern sind „kulturell besonders aufgeladene Themen“ aus der (nicht gebrauchstextlichen) „Pornographie“ vielleicht gar nicht herauszuhalten, weil ihr Vorkommen den Pornographievorwurf überhaupt erst auslöst bzw. erheblich macht. Schwuler Sex war bekanntlich als literarisches Thema vor kaum 50 Jahren in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung in jedem Falle Schweinkram, also Pornographie. Derzeit ist es eben anderes, das „so nicht geht“.
Nun kann man zwar gewiss die jeweils hier und heute geltende rechtliche oder geschmackliche Wertordnung (um 2010 in Mitteleuropa u.a.: kein Kazettsex, kein Sex mit Kindern) nicht ignorieren, aber Diskussionen über Literatur können ihr doch auch nicht ihre Maßstäbe entnehmen, oder?
Wir haben vor kurzem mit den Arbeiten an einem Sachbuch / Sammelband über das „Phänomen Pornografie“ begonnen, ich hoffe, wir werden dort einige der aufgeworfenen Fragen klären können. Das Problem ist, dass es im Grunde nur einen juristischen Pornografiebegriff gibt, und der ist extrem liberal, s. die Verweigerung des Gerichts, die Hauptverhandlung gegen uns wegen Verbreitung von Kinderpornografie überhaupt zu eröffnen. (Der Beschluss müsste auf der „Kaden/Murat“-Seite stehen.) Aber Gott und die Welt reden ständig von Pornografie, mal lobend, mal tadelnd, und die Kriterien werden nach Belieben hin und her geschoben. Der alte Begriff dafür war übrigens „Schmutz und Schund“, der ist ehrlicher, finde ich.
Vielen Dank auch für den Hinweis auf die Analogien zum literarischen „Aufgeilen“, diesen Aspekt hatte ich bisher noch nicht auf dem Zettel!
In der Schweiz war bis in die 80er Jahre hinein Homosex total verboten.
Seit 1992 sind allgemein sexuelle Darstellungen mit Gewalt Ausscheidungen, Tieren, sowie mit Kindern unter 16 Jahren verboten. („harte Pornografie“)
Nur um zu zeigen, wie relativ das ganze ist. Aber meist wird auch übersehen, dass es vor allem um Politik und Gesellschaftspolitik geht, weil die Juristerei dem meist nicht zugeordnet wird, sondern als „Fachbereich“ gilt…
Sexuelle Handlungen aber mit Tieren ist zB nicht im Strafgesetz erwähnt, aber in irgendeiner Tierschutzverordnung…