Toibins James-Roman und die Wunder der Philologie

Toibin ist als Autor offenbar fasziniert von Menschen mit Charakterschwäche jeden Ausmaßes, und wie schon in der „Geschichte der Nacht“ nähert er sich auch hier seiner durchaus anrüchigen Hauptfigur scharfsichtig und ohne moralische Wertungen. Anti-Helden mit solcher Strahlkraft werden nicht oft geschaffen – Toibin schreibt Lehrstücke, ohne zu belehren, ein menschlich ausgesprochen sympathischer Zug, und mit beeindruckender Kunst literarisch realisiert.
Wie Bartlett am Beispiel Wildes das Bild einer Epoche schwuler Londoner Geschichte malt („Who was that man“), so malt Toibin anhand der Biografie Henry James‘ ein Bild der wahrhaft anständigen Gesellschaft der vorigen Jahrhundertwende, zu der dazuzugehören James zeitlebens das größte Anliegen war. Auch wenn verschiedene verständige Menschen seiner Umgebung ihm goldene Brücken bauen, und sogar, als ein Freund ihm ein diskretes Angebot macht, zieht James niemals in Betracht, seinen sexuellen Bedürfnissen im Leben Raum zu geben. Allerdings geht er nicht so weit wie der in vielem seelenverwandte Thomas Mann, sich zur Tarnung in eine Ehe zu flüchten. Seine Strategie ist vielmehr die vollkommene Abschottung gegen persönliche Annäherungen und Zugriffe der Außenwelt jeder Art und langfristig der Aufbau einer autonomen Existenz in Form des Erwerbs von „Lamb House“ in Sussex. Damit genügt er stets den höchsten Ansprüchen bürgerlicher Konventionen, gibt menschlich jedoch in jeder Situation, die moralischen Anstand erfordert, eine schlechte Figur ab. Erst nachdem die Ereignisse stattgefunden haben, in denen er kläglich gescheitert ist, gelingt es ihm, sie literarisch zu sublimieren, was fallweise durchaus ebenso plump und für die Betroffenen verletzend geschieht wie bei Thomas Mann.
Diese Lebensgeschichte aus einer Zeit, als die kultivierte Oberschicht der USA sich bevorzugt in Europa aufhielt, wäre in ihrer faszinierenden Materialfülle und der eleganten sprachlichen und erzählerischen Annäherung an den Ton des späten 19. Jhdts. auch dann von großem Interesse, wenn ihre Hauptfigur rein fiktiv gestaltet wäre. Der Rückgriff auf die umfangreiche biografische Forschung zu James wird jedoch sowohl das erforderliche Studium zeitgenössischer Quellen erleichtert als auch das Interesse des Publikums erhöht haben. Die von Toibin beiläufig vermittelten philologischen Aufschlüsse über Hintergründe von James‘ Stoffwahl dürften kaum Neuigkeitswert haben, allerdings macht Toibin ungemein neugierig auf diesen heute nur noch wenig gelesenen Autor.
Der Originaltitel „The Master“ scheint an das rein biografische Werk „The Young Master“ von Sheldon Novick anzuknüpfen. Das Meisterhafte am Werk James scheint für den angelsächsischen Leser allzu offensichtlich zu sein, als dass Toibin in irgend einer Weise auf dessen Merkmale meinte eingehen zu müssen. Vielleicht sieht Toibin in James auch den Meister des psychologischen Romans der Art, in der er selbst schon mehrere große Werke verfasst hat – zu denen diese großartige Einfühlung in die Gemütszustände Henry James‘ auf jeden Fall gehört.
Auch wenn die Überschriften der elf Kapitel den Eindruck erwecken, die Handlung erstrecke sich über den Zeitraum von viereinhalb Jahren (1895 – 99), ist die Erzählzeit von James‘ Theaterkatastrophe bis zur endgültigen Etablierung in Lamb House nur ein dünnes Mäntelchen für die in ihrem Umfang sehr viel ausführlicheren Rückblenden. Tatsächlich wird seine Lebensgeschichte von früher Kindheit bis zu seinem 65. Lebensjahr erzählt (was daran „mittlere Jahre“ sein mögen, mag das dt. Lektorat wissen). Das heißt: auch die amerikanischen Jahre kommen ausführlich zur Darstellung. Schon damals trat die feige Selbstsucht James deutlich in Erscheinung: zwar drückte er sich vor der Teilnahme als Soldat am amerikanischen Bürgerkrieg, jedoch konnte er sich nicht verkneifen, dem voyeuristischen Bedürfnis nachzugeben, ein Feldlazarett zu besuchen und über die sichere Barriere des sozialen Abstands hinweg mit Verwundeten zu sprechen. Toibin geht hier nicht auf den signifikanten Unterschied zu Whitman ein, dessen Freundschafts-/ Liebesbriefe mit Verwundeten sogar in Buchform veröffentlicht wurden. Als einzige halbwegs zeitgenössische literarische Referenz wird James‘ Interesse an Hawthorne ausführlich geschildert.
Zur deutschen Ausgabe ist anzumerken, dass DTV erstaunlicher Weise eine völlig unzutreffende Inhaltsangabe als Klappentext abdruckt und frühere Buchtitel Toibins falsch angibt. Die bei Hanser entstandene Übersetzung trifft den Ton mit großer Sicherheit, steckt jedoch voller semantischer Merkwürdigkeiten, die auf lexikalische Schwächen im Detail schließen lassen. Das ist schade, aber kein Beinbruch.

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