Warum findet man so wenig Gegenwart in der deutschen Gegenwartsliteratur? Am 30. Januar griff Richard Kämmerlings in der FAZ ein Thema auf, das auch für „Schwule Literatur“ von Interesse ist: wie kommen die Autoren zu ihren Stoffen? Bestimmte Stoffe werden wieder und wieder durchgekaut, andere – z.B. Schwule oder Migranten – tauchen so gut wie nie auf. Kämmerlings schreibt, derzeit dominiere die Retrospektive: einerseits historische Figuren, andererseits Familiengeschichten, am besten eine Kombination von beidem. Ausführlich nachzulesen ist das auf www.faz.net unter dem Titel „Am Tellerand gescheitert“. Da wir bekanntlich mit dem Aufruf, sich am Sammelband „Schwule Nachbarn“ zu beteiligen, einen Impuls setzen wollten, auch über den „sexuellen Tellerrand“ hinauszublicken, ist das Wasser auf unsere Mühlen. Am 7. Februar veröffentlicht Die Zeit eine Replik von Ulrich Greiner, der Kämmerlings aus Absicht oder Nachlässigkeit missversteht und sich dagegen wehrt, die Gegenwartsliteratur mit der pauschalen Forderung nach Aktualität zu kanalisieren. Es ist interessant, dass Greiner die Klage über das fast vollständigen Fehlen solcher Aktualität so platt als eine Anforderung umdeutet, der jeder Autor genügen solle, denn davon ist bei Kämmerlings gar keine Rede (wieder ein Fall von „Textverständnis bei Akademikern“ …). Vielleicht hat Greiner diese Replik auch nur verfasst, um endlich einmal schreiben zu können: „Es kann sein, dass die Neuübersetzung der Odyssee mehr zur Deutung unserer Lage beiträgt als ein sauber recherchierter Roman über die schmutzige Privatisierung einer Klinik.“
Dem kann ich aus schwuler Sicht zwar auch einiges abgewinnen: vielleicht kommt das Liebesverhältnis von Achilles und Patroklos dann endlich zu der Geltung, die ihm gebührt! Greiners Verabsolutierung einer „reinen Literatur“ (er hat es mit Reinheit und Schmutz, s.o.!) mag ihn als „Clementine der deutschen Literaturkritik“ qualifizieren, aber die Abwägung der Qualitäten von Haiku und Roman ist nun wirklich ein alter Hut. Wie Kämmerling in der FAZ ganz richtig schreibt, geht es nicht zuletzt darum, ob es der Gegenwartsliteratur gelingt, ihre Leser zu faszinieren: „So kommt es allerdings, dass eine lange Reportage über den Alltag auf einer Intensivstation spannender als viele Kurzgeschichten ist.“
Von Sterne über Dostojewski und Proust bis zu Musil und Handke verhandelt große Literatur das aktuelle Lebensgefühl, und, wieder Kämmerlings, sie bezieht aus der Arbeit an ihren Stoffen Impulse für formale Weiterentwicklungen. Dass schwule Stoffe als Ausdruck einer Variation dieses Lebensgefühls formal prägend sein können, hat Jean Genet ein für alle mal bewiesen, und bei den neueren Autoren fallen mir spontan Detlev Meyer, Michael Sollorz und Peter Rehberg dazu ein. Ich finde, Familiengeschichten sollten ab jetzt wirklich nur noch gegen Sondergenehmigung veröffentlicht werden. Und Herr Kämmerlings muss sich fragen lassen, ob er denn in seiner journalistischen Tätigkeit auch das Nötige tut, um welthaltigen Romanen die erforderliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Meckern kann schließlich jeder.
Nach Kämmerlings und Greiner wird die Debatte fortgeführt: am 13. Februar schreibt Heiko Michael Hartmann, jetzt wieder in der FAZ, und auch er weist die Forderung Kämmerlings‘ zurück. Anscheinend war es ungeschickt von Kämmerlings, das Wort „Recherche“ zu benutzen, denn nun beißt sich die Debatte an dem banalen Aspekt der sogenannten journalistischen Anteile von Literatur fest. Wesentlich spannender ist der Kommentar Ulf Erdmann Zieglers in Perlentaucher (Auszug im Kommentarfeld zum Ziegler-Blog auf dieser Seite), der sich an einem komplexeren Verständnis von Gegenwartsbezug abarbeitet.