Pisa und kein Ende: Textverständnis bei Akademikern

Der als „Pisa-Studie“ bekannt gewordene Vergleich der Beherrschung grundlegender Kulturtechniken bei Schülern mehrerer Staaten, wie Rechnen und Lesen, darüber hinaus die Fähigkeit zum Verständnis von in Texten geschilderten Handlungen, hat vor einiger Zeit für Aufsehen gesorgt. Schließlich dachten wir alle, in einer Kulturnation wie Deutschland sei das selbstverständlich, aber weit gefehlt. Aus aktuellem Anlass müssen wir nun befürchten, dass diese Kulturtechniken nicht nur bei der jungen Generation schwach ausgeprägt sind. So sagt ein alter Juristenspruch: „Judex non calculat“, der Richter rechnet nicht. Leider kann er auch nicht lesen.
Das Amtsgericht Hamburg hat ein Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornografie gegen einen Roman des Männerschwarm Verlags eröffnet und begründet das mit Verweis auf „eine Szene, in der der Erzähler sowie ein weiterer erwachsener Mann vor einem ca. 12jährigen Jungen sexuelle Handlungen in Form des Oralverkehrs vornehmen, wobei deren Wahrnehmung durch das Kind für den Erzähler von handlungsbestimmender, sexuell stimulierender Bedeutung ist.“

Leider kann ich diese Szene nicht wörtlich zitieren, da schon im Zuge der Ermittlungen „alle Exemplare, die sich im Besitz der bei ihrer Verbreitung oder deren Vorbereitung mitwirkenden Personen befinden sowie die öffentlich ausgelegten oder beim Verbreiten durch Versenden noch nicht dem Empfänger ausgehändigten Exemplare, sowie die zur Herstellung der Datenträger gebrauchten und bestimmten Vorrichtungen wie Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative, Matrizen oder Masterbänder“ erst einmal beschlagnahmt wurden. Das ist schade. Es geht um Folgendes:
Oliver und Murat sind im Freibad und lernen dort einen Fremden kennen. Oliver sucht zusammen mit diesem Fremden die Toiletten auf, in der Erwartung, dass Murat ihnen folgen wird. Die beiden haben Oralverkehr, der Fremde kommt zu einem tollen Orgasmus, und Oliver steht unmittelbar davor, er nähert sich der Grenze, wo man entweder abbrechen oder abspritzen muss. Da öffnet sich die Tür, und Oliver denkt, Murat komme herein. Statt dessen ist es ein magerer Junge, der sie erschrocken ansieht.

Zwei Akademiker, ein Staatsanwalt und ein Amtsrichter, haben diesen Text gelesen und sind zu der Auffassung gelangt, die Wahrnehmung durch den Jungen sei handlungsbestimmend. So so.

Zugegeben, das Zitat geht noch weiter. Oliver steht ja erst unmittelbar vor dem Orgasmus, und den guckt der Junge sich noch an, wobei er masturbiert. Dann läuft er wieder weg. Als Oliver merkt, dass der Junge zwar irgendwie angeekelt, aber auch fasziniert ist, fragt er sich, was er wohl selbst in diesem Alter getan hätte, wenn ihm so etwas passiert wäre, und er erinnert sich an ein Erlebnis, dass er damals in einem Duschraum hatte, wo er beobachtete, wie ein Erwachsener eine Erektion bekam. Er posiert auch ein wenig vor dem Jungen, damit der alles gut mitkriegt, aber das ist einfach nur nett gemeint, schließlich guckt er ohnehin zu, und hat mit seiner eigenen Erregung nichts grundlegendes zu tun.

Vielleicht lesen die Sittenwächter ja so viel schlechte Pornos, dass sie nicht mehr mitkriegen, wenn ein Text etwas komplexer angelegt ist. Dass diese eingeschränkten Lesekompetenzen harmlosen Menschen die Zeit stehlen und Kosten verursachen, ist jedoch wirklich bedauerlich.

4 Gedanken zu „Pisa und kein Ende: Textverständnis bei Akademikern

  1. Ich denke weniger, dass es bei den Richtern und Anwälten an Lesekompetenz mangelt, sondern dass hin und wieder ein Fall kosntruiert werden muss, um einer betroffenen, öffentlichen Meinung den christlich-konservativen Status Quo als „geschützt“ darzustellen: „Schaut mal, wir haben schon wieder was übles ausgegraben und vor Gericht gebracht! Wir schauen auf unsere guten, deutschen Werte!“

    Burroughs Naked Lunch wurde ja auch vor Gericht gezerrt, nur gabs da ja wirklich Hammerszenen drin. ich kann mir vorstellen, dass ein biederer Richter sich da einige Schluckimpfungen nach der Lektüre gönnen musste.

    Und außerdem gilt doch noch immer: “ … weil nicht sein darf was nicht sein kann …“

    Ich drück Euch die Daumen, dass die Sache gut ausgeht, und das Buch publiziert werden darf/kann.

    Liebe Grüße aus Wien,
    Peter

    PS: In meinem nächsten Roman schlachtet ein unter multipler Persönlichkeitsspaltung leidender Mann vierzehnjährige Raver ab und publiziert seine Taten akkurat in einem Weblog. Muss ich mich jetzt fürchten?

  2. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass die homosexuelle Lust wieder „politisiert“ wird. Würde irgend einer einem Mädchen ein Kind machen, wäre alles nur halb so schlimm. Eltern kann man ja schlecht bestrafen. Ausserdem müssen sich Jugendliche auch selber öffentlich ihr Sexualleben thematisieren, nicht nur auf der Polizei oder im Internet. Genauso wie damals die Frauen und die Schwulen…

  3. Guten Abend bzw. Guten Morgen !!

    Den Hinweis zu diesem neuen Justizskandal habe ich der aktuellen Ausgabe der Gigi 54 entnommen.

    Dieser Fall erinnert an den Erlebnisbericht „Stefan“ in einer wissenschaftlichen Datensammlung des PRD. Damals wurde über 4 Jahren einen Prozess darum geführt – Ergebnis FREISPRUCH in der zweiten Revision OLG Koblenz. Weitere Infos dazu bei K13online.

    Wie dieses Verfahren letztendlich ausgeht würde mich schon sehr interessieren und deshalb würde ich mich über eine Nachricht freuen.

    MfG Dieter Gieseking
    K13online Redaktion

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert