Vor zwanzig Jahren, am ersten Dezember 1987, starb der schwarze amerikanische Schriftsteller James Baldwin. Sein zweiter Roman „Giovanni’s Zimmer“ (1956) ist einer der wichtigsten Klassiker der schwulen Literatur. Sein folgender Roman „Eine andere Welt“ (1962) war eine echte Sensation in den USA, die deutsche Übersetzung wurde in den 60ern nur an Personen über 18 Jahren abgegeben. Diesen Roman habe ich mit einiger Verspätung jetzt endlich gelesen, und ich möchte einige Beobachtungen dazu aufschreiben.
Die deutschen Ausgaben dieser beiden Bücher wurden vom Rowohlt Verlag leider in diesem Jahr aus dem Programm genommen, sie sind nur noch im „Modernen Antiquariat“ zu erhalten, mit Sicherheit bei den Schwulen Buchläden. Es lohnt sich allerdings, sie wenn möglich im englischen Original zu lesen. (Wenn jemand wie Hans Wollschläger „He went down on us“ mit „Er zapfte unsere Schwänze an“ übersetzt, hört der Spaß auf!)
„Another Country“ – der Originaltitel meint durchaus eine Alternative zum Leben in den USA und keine „Andere Welt“, wie es in deutsch heißt – geht auf die Probleme des Beziehungslebens ein, schwules Coming-out spielt erstaunlicherweise gar keine Rolle: die armen Schlucker im Greenage Village standen offenbar ohnehin derart am Rande der Gesellschaft, dass die Frage der sexuellen Vorliebe ziemlich unwichtig war. Ende der 80er Jahre befasste sich eine neue Generation amerikanischer Autoren mit diesem Thema (u.a. Leavitt, Grimsley, Olshan), aufgrund anderer zeitgeschichtlicher Voraussetzungen geht es bei ihnen jedoch in erster Linie darum, aus dem wilden Herumgeficke der 70er und frühen 80er heraus zu kommen, wobei Aids sicher eine Rolle spielte. Anders Baldwin: seine Helden suchen nach einer Liebe, die Ausdruck der ganzen Persönlichkeit des andern ist, was beide Partner dazu zwingt, sich überhaupt erst einmal klar über sich selbst zu werden. Sich einerseits zu öffnen und andererseits die Schutzmauern des andern zu durchdringen ist für alle Personen des Romans ein Kampf, der manchmal auch brutale Züge annimmt. (Damit verweist „Eine andere Welt“ u.a. zurück auf Jourdans „Schlimme Engel“ von 1957.) In sehr langen Gesprächen, die in ihrer psychologischen Glaubwürdigkeit, die nie thesenhaft wird, zu den stärksten Passagen des Buchs gehören, werden die Probleme, die dieser lang andauernde Kampf überwinden muss, von allen Seiten beleuchtet. Damit erreicht Baldwin Anfang der 60er Jahre ein Reflexionsniveau, das bei späteren Autoren kaum noch anzutreffen ist und auch nach 45 Jahren nichts an Brisanz verloren hat.
Und die Sexualität? Rufus, ein schwarzer Musiker, der im Zentrum der Figurenkonstellation steht, obwohl er schon nach 80 Seiten Selbstmord begeht, führt lange Zeit eine schwule Beziehung, bis sein Freund Eric vor seiner Brutalität ins Ausland flieht, und lebt danach mit einer weißen Frau zusammen. Erik lernt in Paris einen jungen Stricher kennen, kehrt jedoch wegen eines Theaterengagements nach New York zurück, wo ihn die Frau eines Schriftstellers verführt, die von der Mittelmäßigkeit ihres Mannes enttäuscht ist. Schließlich landet Eric auch noch mit dem Freund von Rufus‘ Schwester im Bett – der unschuldige Schwule stellt damit gewissermaßen den Gegenentwurf zu den verquält-konfliktbeladenen Heterobeziehungen dar. Der Roman endet mit dem Eintreffen von Erics Freund in New York und lässt damit die Frage offen, ob Eric auch in einer schwulen Paarbeziehung „überleben“ kann. Die Präzision, mit der Baldwin die schwulen Erfahrungen seiner heterosexuellen Figuren beschreibt, stellt moderne Geschichten wie „Brokeback Mountain“ mühelos in den Schatten.
Es lohnt sich, diesen großartigen Schriftsteller wiederzuentdecken!
„Eine andere Welt“ begegnet dem Leser anfänglich recht spröde, beinahe abweisend, zugleich auch aggressiv, sodass man davor fast auf der Hut sein möchte. Am Ende aber, allerspätestens im dritten Teil, bedauert man, das Buch aus der Hand legen zu müssen, weil es schlicht und einfach zu Ende ist. Mir fiel als Parallele spontan Purdys „Narrow Rooms“ (dt.: „Enge Räume“) ein, ein Buch, in dem der Autor Liebe, Kampf und Leiden von vier Personen gleichzeitig schildert. Baldwin übertrifft diese Leistung: er hat sieben (!) Protagonisten und er schafft es, diese mit einer Intensität vorzustellen, dass sich kein Punkt findet, an dem man ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen könnte.
„Eine andere Welt“ ist ein Buch, in dem es um Schwarz und Weiß geht, aber der Autor beweist mit jeder seiner Figuren, dass es genau das nicht gibt: kein Schwarz und kein Weiß, denn jeder ist ein bisschen schwarz und ein bisschen weiß, der Schwule hat eine Beziehung mit einer Frau und der weiße Hetero lässt sich von dem Schwulen ficken, bevor er zu seiner schwarzen Freundin nach Hause zurückkehrt, die ihn mit einem anderen Weißen betrügt und dabei weiß, dass sie selbst die Betrogene ist. Man möchte sagen: Baldwin zeigt das Leben, wie es wirklich ist.